Reifröcke, Schleppen und Halskrausen – das imperiale Wien war ideengebend für die Abschlussarbeiten der Studenten der Modeklasse der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Die Show folgte einem künstlerischen Gesamtkonzept – und wurde vom Ambassade Orchester Wien begleitet, das eine dekonstruierte Version des Wiener Walzers erarbeitet hatte. Dekonstruktion war auch das einende Merkmal der Arbeiten der Studenten.
Nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause gab die Angewandte am 2. Juni 2022 erstmals wieder eine physische Modeschau. Es war der erste öffentliche Auftritt, seit die 30-jährige Londonerin Grace Wales Bonner die Modeklasse der Angewandten leitet – und das Publikum war gespannt, inwieweit und WIE sie die Arbeiten der Student*innen beeinflusst hat. Wales Bonner hat ihr eigenes Label 2014 gegründet und feierte früh große Erfolge, da sie von Anfang an ihren eigenen Weg ging und die Auseinandersetzung mit Gender, Rasse und Politik suchte.

Stilmittel Farbe
Den Mut aus vorgegebenen Strukturen auszubrechen, zeigt sich auch als Leiterin der Modeklasse. Das bewies sie in dieser ersten Show. In der Gestaltung der Show kooperierte Grace Wales Bonner mit Imogen Snell und Riccardo Castano von ISStudio London, die für Stars wie Madonna arbeiten. Der Blick von außen brachte einen Wienbezug hervor, der anders wahrscheinlich nicht entstanden wäre. Weil Dinge, die selbstverständlich geworden sind, meist nicht begehrlich sind – auch wenn sie wertvoll sind. Eine zeitgenössische Überarbeitung kann das radikal ändern. Das ist es, was die Modeindustrie macht und das ist es, was Grace Wales Bonner mit ihren Student*innen zelebrierte.
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Die Student*innen hatten offensichtlich viel Zeit und Kreativität in die Umsetzung ihrer Designkonzepte investiert und waren zu interessanten und elaborierten Schnitt- und Verarbeitungslösungen gekommen. Wichtigstes Stilmittel war jedoch die Farbgebung, die sich über vorwiegend monochrome Bilder definierte. So waren es zwar individuelle Designkonzepte von 24 Student*innen, aber doch ein relativ ruhiger Gesamteindruck – und das erleichterte auch die Rezeption.
Im ersten Bild wurde die Diplomkollektion von Tina Lichtenstöger präsentiert – eine der zwei diesjährigen Absolvent*innen. Sie hatte ihre Kollektion Reserved Adventure ausschließlich in Rot und in Kontrasten innerhalb der Rotfamilie angelegt. Noch entschiedener das Finale, in dem alle Models in Yves Klein Blau gekleidet waren. Es war ein Gemeinschaftsprojekt, das unter dem Titel Blue Project lief.
Trotz der monochromen Farbgebung sahen die Modelle nicht monoton aus, weil stark kontrastierende Stoffoberflächen eingesetzt wurden – mit Gegensätzen wie etwa transparent/opak, matt/glänzend und steif/fließend.

Hyperbolische Silhouetten
Außerdem waren die monochromen Farbbilder dazu angetan, die extremen Silhouetten gut zur Geltung zu bringen. Silhouetten, die mit Elementen wie Schleppe und Reifrock raumgreifend waren. Mit in Körperform gemoldeten, transparenten Plastikelementen, wurden auch Anleihen an Rüstungen genommen.
Die Student*innen nutzten verschiedene Strategien, die Elemente höfischer Kleidung in einen zeitgenössischen Kontext zu setzen. Neben einer minimalistischen Umsetzung war das Stilbruch, der sich zum einen in der Kombinationen mit Raff- und Wickteltechniken aus der Antike zeigte – und zum anderen in der Kombination mit contemporary Basics – Basics wie etwa weite Hosen aus fließenden Stoffen und t-shirt-ähnliche Oberteile.
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Auffallend war auch eine fast durchwegs genderneutrale Umsetzung. Begünstigt durch ein hohes Aufkommen an Hosen, Jacken und Mänteln, die relativ unproblematisch geschlechtsunabhängig getragen werden können.
Raffiniert die Konstruktionen, die sich aufzulösen schienen, weil ein Auseinanderfallen nur durch die notwendigsten Nähte und Fixierungstechniken verhindert wurde. Ein Beispiel dafür sind Jacken mit offenen Seiten- und/oder Ärmelnähten, Stoffe die sich zum Hosen- und Jackensaum in Fransen auflösen – und scheinbar lose Gewickeltes und Drapiertes.

Abstrakte Codes
Aus den majestätischen Kleidern kann ein Bedürfnis nach Würde geschlossen werden, das im intensivierten Wettbewerb des Neoliberalismus unerfüllt bleibt. Offensichtliche Referenzen im Sinne von Zugehörigkeit oder Abgrenzung waren klar rückläufig – aber im Ansatz doch noch vorhanden. Unschwer zu erkennen eine Interpretation des superknappen chino-artigen Miu Miu Rocks, der zuletzt in den Sozialen Medien zum feministischen Symbol avancierte. Vermehrt tauchten auch wandelnde Kleiderberge auf, die auf die Überproduktion hinzuweisen schienen. Umgesetzt wurden diese durch die Verarbeitung mehrerer Kleidungsstücke in einem – wie etwa zwei Pullover, die sich um den Oberkörper geschlungen werden – oder mehrere Spitzentops, die zu einem Kleidungsstück verarbeitet werden.
Im Vergleich zur – für die Postmoderne typischen Ironie – kann die Dekonstruktion wesentlich konstruktiver sein – schon allein weil sie sich explizit auf Material und Form bezieht. Außerdem gibt es mit Vorläufern wie Rei Kawakubo auch schon eine Art Tradition. Hingegen steckt die Praxis politische / philosophische Theorien in Modedesigns umzusetzen noch in den Anfängen.

Rondo Modepreis
Der Rondo Modepreis 2022 wurde von Saboteur, einer Sublinie des deutschen Schmuckdesigners Thomas Sabo, gesponsert. Preisträger war Fritz Haßler, der sich in seiner Kollektion Treacherous Roads mit Coming-of-age und Identität beschäftigte. Er zerlegte Kleider aus dem eigenen Fundus und jenem von Familienmitgliedern und Freunden, um sie zu neuen Kleidungsstücken zusammenzufügen – und verschiedene Identitäten auszudrücken. Besonders kunstvoll eine Patchwork-Hose, die aus zopfartigen Fragmenten zusammengesetzt war. Haßler hat Praktika bei Henrik Vibskov in Kopenhagen und bei J.W. Anderson in London gemacht und strebt einen Job in der Designabteilung eines Modelabel in einer der Modemetropolen an.

Der Film
Die Vorbereitungen zur Show der Angewandten und die aufwändige Inszenierung im Atrium des Gebäudes in der Zollamtsstraße 7 wurden von dem renommierten Berliner Filmemacher Matt Lambert aufgezeichnet. Die Produktion wird in einem Kurzfilm im Rahmen des Angewandte Festivals 2022 (28.6. bis 1.7.2022) präsentiert. Lambert hat schon für Labels wie Rick Owens, Givenchy und Comme des Garçons gearbeitet.
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