Christina Seewald würde ihren Arbeitstag am liebsten schon um fünf Uhr Morgens mit Yoga beginnen. Mangels Angebot in Wien, nimmt sie den frühsten Kurs um sieben. Das rasante Tempo hat sich die Modedesignerin bei ihrem Master am Central Saint Martins in London angeeignet.
Foto oben: Christina Seewald in ihrem Studio (c) Maria Ritsch
Seit wenigen Monaten betreibt sie ihr eigenes, gleichnamiges Modelabel. Als Firmensitz hat sie sich Wien ausgesucht – wegen der leistbaren Mieten. Dass es kaum lokale Infrastruktur gibt, ist ihr weniger wichtig. Die ersten Kontakte zu Mode-Stores wie www.ssense.com knüpfte sie schon als sie ihre Master-Kollektion bei der London Fashion Week im Februar 2019 zeigte – und in der Produktion arbeitet sie mit einem italienischen Betrieb zusammen.
Kaum in Wien, machte sie im Oktober 2019 eine Show im Reaktor. Bei der Inszenierung kehrte sie den Male Gaze um. Sie kleidete Männer in semitransparente Unterhosen und Frauen in opaque Pullis, Hosen und Kleider. Es waren die Männer, die posierten – und von den Frauen gemustert wurden.

Die Modedesignerin bezieht sich in ihren Kollektionen auf gesellschaftliche Geschlechter-Stereotypen und macht diese zum Ausgangspunkt ihres Designprozesses. Dabei geht es ihr um „die Einschränkungen, die Frauen ertragen müssen und darum, dass es für Frauen viel schwieriger ist, sich selbst darzustellen und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen“.
In ihrer Masterkollektion ließ sie sich von Julia Kristevas Begriff Abjection leiten, die damit die Beziehung einer Person zu etwas Ekelerregendem beschrieb. Christina Seewald bezog den Begriff auf Stereotypen zu (Un-)Sauberkeit von Frauen und nutzte das Shewee, ein Objekt, das es Frauen ermöglicht, in der Öffentlichkeit im Stehen zu urinieren. Damit wollte die Modedesignerin zeigen, dass Dinge, die Männern erlaubt sind, bei Frauen nach wie vor schockieren.
Kurz nach der Show traf ich die Modedesignerin in ihrem neuen Studio in Wien zum Interview. Sie hatte ein weißes semitransparentes knielanges Kleid, das wie ein Unterkleid aus den 1960-er Jahren wirkte, über einen dünnen hellgrauen Pulli gezogen. Ich musste nicht lang Small Talk mit ihr führen. Sie ist offen, humorvoll und spricht gern über ihre Arbeit.
Christina Seewald im Interview:
Du warst zuerst an einer Grazer Modeschule und dann noch am Central Saint Martins in London. Was waren die Überlegungen zu deiner Ausbildung?
Ich hab schon als Kind gern mit Textilien experimentiert und weil ich gern etwas Taktiles machen wollte, entschied ich mich eben für die Modeschule. Dort habe ich sehr viel Technik gelernt, aber das Künstlerische hat mir gefehlt. Nach der Schule ging ich nach London, machte innerhalb eines Jahres zwei Praktika und arbeitet parallel an einem künstlerischen Portfolio für das Aufnahmeverfahren am Central Saint Martins.
In diesem Jahr habe ich versucht, zusätzlich zur Technik einen künstlerischen Bezug zu Mode aufzubauen.

Am Central Saint Martins wurde ich gleich aufgenommen, habe mich auf Fashion & Textiles spezialisiert und den Bachelor in Textildesign – Strickware gemacht. Ich konnte mich kaum zwischen den Fachrichtungen Strick und Druck entscheiden und entschied mich im letzten Moment für Strick. Im Strickbereich gibt noch viel mehr zu entwickeln als im Druck, den durch die digitale Technik eigentlich jeder machen kann. Wenn man sich eingehend mit der Stricktechnik befasst, kann man hingegen noch wirklich außerordentliche Designs entwickeln.
Strick hat mich wirklich begeistert. Ich habe in der Zeit viel auf den Maschinen gestrickt und eine ganze Bibliothek an Strickmustern entwickelt, die ich auch heute noch nutzen kann. Ich war wirklich obsessiv – fast süchtig. Es ist faszinierend, dass aus Garn und Technik unendlich viele Gestricke entstehen können und ich mir als Designer meine Stoffe selber herstellen kann.
Hattest du am Central Saint Martins Vorteile durch deine technische Vorbildung?
Vor- und Nachteile würde ich sagen. Der Vorteil ist, dass man nicht auf Techniker oder Lehrer angewiesen ist, wenn man Schnitte entwickeln oder die Nähmaschine bedienen will. Der Nachteil ist, das man manchmal sehr technisch denkt und dadurch den kreativen Prozess einschränkt.
Aber da ich im Bachelor am Central Saint Martins die Fachrichtung Textildesign Strickware belegt habe, war ich weniger mit Schnitt- und Schneidertechnik befasst, als mit dem Stricken, Weben und Bedrucken von Stoffen. Ich habe viel experimentiert und mich auf Oberflächen und Texturen von Kleidungsstücken konzentriert. Das hat mir auch einen neuen Zugang zur Schnitt- und Schneidertechnik gebracht. Heute nutze ich beides – die technischen Grundlagen und die experimentellen Prozesse. Aber ich muss mich immer wieder davon abhalten, zu kreativ oder zu technisch zu denken.
Bei der Masterkollektion konnte ich noch uneingeschränkt kreativ sein. Seit ich mein eigenes Label habe, spielen aber noch mehr technische Faktoren mit. Das Kleidungsstück muss auch produzierbar und für die Kunden handhabbar sein.

Du hattest am Central Saint Martins auch Vorlesungen in Kultur Theorien?
Ja, wir mussten Essays schreiben. Mir war die Theorie sehr wichtig und ich habe sie immer mit der Kreation verbunden. Ich wollte mich nicht nur von Kunst inspirieren lassen, sondern auch die gesellschaftlichen Konflikte dahinter sehen. Am Anfang habe ich mich auch viel mit compulsive disorder (deutsch: Zwangsstörungen) beschäftigt. Wenn man erst ein Thema hat, dann findet man viele Referenzen bei Künstlern, die sich auch damit beschäftigen – und tausende Inspirationen. Man muss als Modedesigner kunstaffin sein, um die Zusammenhänge zu erkennen.
Auch Alexander McQueen, Hussein Chalayan und Vivienne Westwood haben sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinandergesetzt.
Es wird immer andere geben, die mehr Geld haben – und dadurch muss man kreative Wege finden, um zum gleichen Resultat zu kommen. In dieser Hinsicht habe ich viel gelernt, im Masterstudium in London.
Du hast einen gesellschaftskritischen Ansatz – wie formulierst du den – und was sind die Anliegen?
Ich möchte vor allem jüngeren Leuten vermitteln, dass man lieber mehr Geld in ein hochwertiges Kleidungsstück investieren sollte, als viele Kleidungsstücke minderwertiger Qualität zu kaufen und dann nach fünfmal Tragen wegzuwerfen.
Deshalb achte ich darauf, dass meine Designs zwar interessant, aber doch auf eine gewisse Art zeitlos sind – und dass man sie auch nach Jahren noch gern aus dem Kasten holt und anzieht. Das erfordert auch eine entsprechende Materialqualität.
Dann geht es mir natürlich auch um das Frauenbild, das ich anspreche. Meine Mode soll von Frauen jeden Figurtyps getragen werden können. Ich habe immer transparente Teile in meiner Kollektion und ich finde, auch stärkere Frauen können ihre Rundungen zeigen. In meiner Show habe ich das dargestellt, indem ich Frauen mit verschiedenen Figurtypen gecastet habe. Mittlerweile habe ich auch Unisex-Teile in der Kollektion. Das war eigentlich nicht geplant und hat sich aus der Nachfrage ergeben. Warum sollte ich mich auf ein Geschlecht konzentrieren, wenn ich Teile machen kann, die beiden Geschlechtern passen?
Ich suche mir ein Objekt, das ein sozialkritisches Thema zusammenfasst und lasse mich davon inspirieren. Christina Seewald

Meine Kollektionen folgen meistens einem sozialkritischen Thema. In meiner Masterkollektion ging es um Abjektion (deutsch: Verwerfung).
Anmerkung: Der Begriff wurde 1980 von der französischen Psychologin und Literaturwissenschafterin Julia Kristeva eingeführt, die in ihrem Buch Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection von Abjektion sprach, um die Beziehung einer Person zu etwas Ekelerregendem zu beschreiben.
Ich bezog mich auf gesellschaftliche Klischees zu Frauen und (Un-)Sauberkeit und wollte nicht unbedingt Menstruationsblut nehmen, weil das alles schon so done ist. Ich habe ein Objekt gesucht und das wollte ich irgendwie ästhetisch verpacken, so dass man im ersten Moment nicht weiß, worum es geht, aber bei näherer Betrachtung den Konflikt sieht.
So bin ich auf das Shewee gekommen, ein trichterartiges Silikontool, das es Frauen ermöglicht, in der Öffentlichkeit im Stehen zu urinieren. Hier ist es zum Beispiel in der Ärmelform wiederzuerkennen (holt ein Kleid vom Ständer und deutet auf die Ärmellösung, die im oberen Drittel eine trichterartige Öffnung zeigt). Ich habe aber auch das Tool selbst verwendet – als Schmuckelement bei Drapierungen.
Anmerkung: Shewee ist ein Markenname. Das Produkt tauchte in Zusammenhang mit Musik Festivals auf – wo es für Frauen oft keine akzeptable Möglichkeit des Urinierens gibt. Gleichzeitig können Frauen mit dem Shewee auch öffentliche Toiletten berührungslos benutzen und haben so ein reduziertes Risiko für Infektionen.
Eine Frau, die im Abendkleid öffentlich uriniert, würde auf jeden Fall von der Gesellschaft verurteilt werden. Wenn sich ein Mann zu einem Baum stellt und uriniert, ist das aber irgendwie normal. Der Mann steht also dafür, was normal ist, in einer Gesellschaft. Würde das eine Frau machen, wäre das schockierend. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Ich finde Objekte, die etwas umschreiben, allgemein ziemlich inspirierend. Weil man da gleich etwas Visuelles hat und ein Produkt meistens sehr viel über eine Zeit und eine Gesellschaft aussagt.
Ich nehme das Teil, fotografiere es und überlege mir dann, wie es die Form eines Kleidungstückes inspirieren könnte.
Das sozialkritische Thema ist nicht ersichtlich, aber trotzdem ist es als Inspiration für meinen Designprozess wichtig – und hilft mir, meinen Standpunkt klarzustellen. Christina Seewald
Neben Julia Kristeva beziehe ich mich auch auf Theorien wie jene von Judith Butler, die sich mit heteronormativen Geschlechterrollen befasst – und mit der Objektifizierung, die der Frauen in der Gesellschaft zuteil wird. Ein einfaches Beispiel sind Farbzuschreibungen: Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungen. In meiner Kollektion für Sommer 2020 habe ich nach dem Motto as long as it is pink drei Looks in Pink entworfen. So entstehen meine Designs.

Interessieren sich die Händler für die Kulturtheorien?
Händler finden die Theorie interessant. Aber sie interessieren sich mehr dafür wie der Instagram-Account aufgebaut ist – und ich kann mich mit meinem Konzept auch in den Sozialen Medien sichtbar machen.
Aber man kann nicht nur einen politischen Standpunkt vertreten. Auch die Konsumenten sind von der Ästhetik geleitet. Das muss einem als Designer klar sein. So lange sich die Dinge verkaufen, ist das okay.
Ist deine Kollektion im Luxussegment positioniert?
Es ist mir extrem wichtig, woher das Garn kommt, das ich verwende und welche Eigenschaften es hat. Ebenso wichtig ist mir die Verarbeitung und wie das Innenleben des Kleidungsstücks aussieht. Durch diesen hohen Qualitätsanspruch fallen meine Kollektionen sicher eher in die Kategorie Luxus. Das gilt besonders für meine Strickware.
In einer von Konzernen gesteuerten Modeindustrie – welche Chancen gibt es für aufstrebende Modedesigner?
In den vergangenen Jahren hat sich viel verändert. Es gibt mittlerweile mehr junge Leute, die bereit sind, mehr Geld für Kleidung auszugeben oder in Vintage-Shops einzukaufen. Das ist viel nachhaltiger als bei den High Street-Konzernen einzukaufen. Aber natürlich ist die Konkurrenz groß – und die Konkurrenz, das sind nicht zuletzt die High-Street-Konzerne, die Menschen auf mehreren Ebenen ausbeuten. Sie beuten auch junge Designer aus, indem sie ihre Designs kopieren. Ich vermeide es total in High-Street Stores einzukaufen. Aber es gibt schon eine Zukunft für junge Modedesigner.
Und wie sieht diese Zukunft aus?
(Holt tief Atem) Ich würde sagen, die Chancen sind nicht sehr groß. Man muss wirklich sehr hart arbeiten und nachhaltig denken, um eine Nische zu finden, in der man sich behaupten kann. Aber man darf sich auch nicht auf etwas festlegen und sagen, okay, das mache ich jetzt für die nächsten zehn Jahre. Man muss sich ständig fortbilden und offen für Neues sein. Vielleicht auch mal nebenbei einen Job annehmen und unterrichten, um die Finanzierung zu sichern.
Ich glaube, man kann ein eigenes Label nur betreiben, wenn man bereit ist, wirklich sehr viel dafür aufzugeben. Das ist kein nine to five Job. Das Private vermischt sich mit dem Beruflichen und man muss sich gut überlegen, ob man bereit ist, sein Leben in das Label zu investieren.
Viele glauben, dass das Leben eines Modedesigners glamourös ist und dass Mode aus schönen Menschen und schönen Dingen besteht. Aber im Endeffekt arbeitet man als Designer twenty-four seven. Man hat keine Zeit, ständig seine Haare zu machen und gut auszusehen. Christina Seewald

Wie kam dann die Entscheidung nach Wien zu gehen?
Nach sieben Jahren London habe ich mich nach einer anderen Stadt gesehnt. Eigentlich wollte ich einen Job als Designerin annehmen, aber als die Nachfrage nach meiner Masterkollektion so groß war, habe ich mich eben gleich selbstständig gemacht. Nach Österreich bin ich aus finanziellen Gründen gegangen. Hier kann ich mir die Miete für ein Studio leisten. In London wäre das zu dem Zeitpunkt noch unmöglich gewesen. Natürlich ist Wien kein Modeplatz. Aber ich habe weltweit Kontakte und kann jederzeit schnell in einer anderen Stadt sein. Also will ich es in Wien einfach mal versuchen und dann weitersehen, wo es mich hinzieht.
Hier hatte ich das Gefühl, gleich rasant starten zu müssen und wollte unbedingt eine Show machen. Weil ich kaum Bekannte hatte, schrieb ich auf Instagram Leute an, die ich interessant fand. So habe ich mit einer Keramikerin einem Fotografen und einer Setdesignerin zusammengearbeitet. Wir haben uns gegenseitig mit Dingen geholfen, haben uns dabei weiterentwickelt und mittlerweile sind wir sehr gut bekannt.
Mir liegt es wirklich am Herzen in Wien ein Modenetzwerk aufzubauen. Hier gibt es viel Talent, aber es gibt zu wenig Förderung und zu wenig Zusammenarbeit. Man kann viel mehr leisten, wenn man zusammenarbeitet. Christina Seewald
Ich arbeite immer mit anderen Künstlern, egal aus welchem Bereich sie kommen. Es muss nur eine Verbindung zwischen unseren Arbeiten geben. Zuletzt habe ich auf Instagram eine Floristin kontaktiert, die sehr experimentell arbeitet. Wir haben spontan ein Projekt entwickelt, eine Mischung aus Installation und Verkauf. Sie bietet ihre Blumenarrangements an und ich entwickle eine eigene Kollektion, eine günstigere Version meiner Cashmere-Kollektion. Es ist wirklich toll, neue Leute kennenzulernen.
Danke für das Gespräch.
Christina Seewald hat am Central Saint Martins College of Art and Design in London den Bachelor in Textildesign/Strickware gemacht. Im Master belegte sie die Fachrichtung Mode für Strickware (MAFCSM FASHION FOR KNITWEAR) bei Fabio Piras. Ihr gleichnamiges Label gründete sie gleich nach ihrem Diplom im Sommer 2019.
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