Die Modeindustrie ist eine der größten umweltverschmutzenden Industrien. Das war einer der meistgelesenen Sätze der vergangenen Jahre. Für Verena Kroupa von der Creative Region Linz & Upper Austria war dies Anlass, mich nach dem Mindset der Industrie und vielversprechenden nachhaltigen Technologien zu befragen.
Hier lesen Sie eine überarbeitete Version des Interviews, das am 20. Juli 2021 im Blog der Creative Region erschien. Im Interview sind eine Reihe von Artikeln und Interviews verlinkt, die ich in den vergangenen Jahren über nachhaltige Technologien in der Mode geschrieben habe. Als solches bildet das Interview auch einen groben Überblick über die Inhalte meiner Website.
Foto oben: Iris van Herpen, Voltage: Aus der Kollaboration Iris van Herpen x Julia Körner, Winter 2014/15 (c) Michael Zoeter
Die Themen im Überblick:
- 1 Fast Fashion und Nachhaltigkeit
- 2 Recycling von Textilien als nachhaltige Initiative
- 3 Baumwolle versus Lyocell
- 4 Nachhaltige Initiativen im Baumwollanbau
- 5 Vegane Lederalternativen
- 6 Nachhaltigkeit von 3D-Druck
- 7 Robotik und 3D
- 8 Initiativen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse in Niedriglohnländern
- 9 Virtuelle Mode
- 10 Intelligente Textilien und ihr Potenzial
- 11 Haute Couture und Technologie
1 Fast Fashion
Fast Fashion lässt sich ja kaum mit Nachhaltigkeit verbinden – obwohl sie sich gerne mit diesem Etikett schmückt. Was ist von den Nachhaltigkeitversprechen in diesem Sektor zu halten?
Modedesigner*innen, die nachhaltig arbeiten wollen, kommen schnell zu dem Schluss, dass man nur dann umweltfreundlich sein kann, wenn man gar nicht produziert. Zwar hätten wir noch lange genug anzuziehen, ohne Neues zu produzieren, aber dieser Konsens wäre in der Gesellschaft aktuell nicht herzustellen. Deshalb sollte jedes neu zu produzierende Stück eine Daseinsberechtigung haben. Das heißt, der Stoff sollte langlebig sein, der Schnitt zweckmäßig und das Design in seiner Art einzigartig. Nur so wird es von Konsumierenden lang getragen, beziehungsweise im Sinne des Sharing Gedankens weitergegeben werden.
Wachsende Müllberge und entwertetes Modedesign
Fast Fashion Unternehmen sind im permanenten Produktionsmodus. Die Stoffe haben ihre Schönheit oft schon nach dem ersten Waschen verloren. Man hat es also vielfach mit Wegwerfmode zu tun, die den schon jetzt nicht mehr zu bewältigenden Textilmüllberg weiter wachsen lässt. Allein deshalb kann sich Fast Fashion nicht nachhaltig nennen.
Problematisch an Fast Fashion Unternehmen ist auch die Praxis des Kopierens. Dadurch konnten die Unternehmen ihre Produktentwicklungszeiten verkürzen und ihre Produktionszyklen beschleunigen. Das hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt und zwei Dinge bewirkt: eine Entwertung von Modedesign und eine enorme Überproduktion. Daran ändern auch werbewirksame Capsule Kollektionen mit bekannten Labels nichts, mit denen sich etwa H&M den absatzfördernden Coolness-Faktor erkaufen will. Man denke an H&M x Karl Lagerfeld.
Die Modeindustrie hat schon lange verstanden, dass es so nicht weitergehen kann. Viele – und gerade Fast Fashion Unternehmen – warten aber auf angekündigte gesetzliche Regulierungen, weil jede nachhaltige Maßnahme die Produktions- und somit die Verkaufspreise erhöht. So will man Fehlinvestitionen vermeiden.
Textiles Recycling
In den skandinavischen Herkunftsländern der Modediskonter H&M und Bestseller, forscht man schon lange zu nachhaltiger Modeproduktion. Außer Biobaumwolle ist zwar bis jetzt noch nicht viel bei Endverbraucher*innen angekommen, aber das wird sich vermutlich rasch ändern. Die Hoffnung ruht auf recycelten Materialien, die technisch schon umsetzbar sind – und den Prinzipien der angestrebten Kreislaufwirtschaft entsprechen. Wenn Fasern aus gebrauchter Kleidung wieder aufbereitet werden, müssen keine wertvollen Böden für den Anbau verwendet oder fossile Energien für ein kurzlebiges Produkt wie Mode verschwendet werden.
Aber Forscher kritisieren den immensen Trend zu Recycling, weil sie darin eine Rechtfertigung für den rapiden Sortimentswechsel sehen. Sie fordern, die Produktionsmengen zu reduzieren.
Einen Artikel darüber finden Sie hier: Wiener Forscher: Recycling von Textilien soll nicht den rapiden Sortimentswechsel rechtfertigen
2 Recycling
Kannst du uns hier mehr über nachhaltige Forschungsprojekte und Initiativen in der Fast Fashion sagen?
In Nordeuropa verpflichteten sich Modeunternehmen schon 2008, ethische und ökologische Standards in der Modeproduktion zu schaffen und auch einzuhalten. Damals schlossen sich fünf nordische Länder in der NFA Nordic Fashion Association zusammen und gründeten die Plattform Nordic Initiative Clean and Ethical (NICE). Ziel war es, Erfahrungen und Wissen zu teilen und gemeinsame Projekte zu erarbeiten. Im Vergleich zum sogenannten The Fashion Pact in Frankreich, der erst elf Jahre später geschlossen wurde, war das relativ früh.
Ein aktuelles Beispiel für ein Forschungsprojekt ist Circulose, eine Faser aus einer Recyclingmethode, die am (KTH) Royal Institute of Technology in Stockholm entwickelt wurde. Dabei werden aussortierte Kleider mit hohem Zelluloseanteil (z.B.: Baumwolle und Viskose) zerlegt, entfärbt, zerkleinert und über ein Lösungsmittel zu einer neuen Faser verarbeitet. Renewcell, der Hersteller, sieht darin eine Alternative zu Baumwolle. 2020 war der schwedische H&M Konzern neben Jeanshersteller Levi Strauss einer der Ersten, der die Faser einsetzte. Mittlerweile ist H&M schon am Unternehmen beteiligt. Allgemein bleibt abzuwarten, inwieweit sich die Faser durchsetzen wird. Aber: Recycelte Fasern sind teurer als konventionelle. Weshalb sich die Modeindustrie gerade die Frage stellen muss, ob Nachhaltigkeit mit ungebremstem Wachstum vereinbar ist.
Ein anderes Beispiel ist der japanische Konzern Uniqlo, der seine Kleider nach Gebrauch zurücknimmt. Guterhaltenes wird an Wohltätigkeitsorganisationen gespendet und Abgetragenes dem Recycling zugeführt. Ein Service, das unlängst auch die amerikanische Marke Ralph Lauren gerade eingeführt hat.
Diese Initiativen sind mehr oder weniger Reparaturen am bestehenden Produktionssystem. Weit aufregender ist es, das gesamte System neu zu denken, so wie es Aniela Hoitink macht, die Gründerin des niederländischen Start-ups NEFFA. Sie hat eine fast-fashion-taugliche Technologie entwickelt, in der sie ein Gewebe aus Myzelium schon in der gewünschten Form wachsen lässt. Das Material ist biologisch abbaubar. Dadurch können Verbraucher*innen mit gutem Gewissen an kurzfristigen Modetrends teilhaben.
3 Alternative zu Baumwolle
Du hast vorhin gesagt, dass außer Biobaumwolle noch kaum nachhaltige textile Produkte bei Endverbraucher*innen angekommen sind. Auch scheint Lyocell im Verhältnis zu Baumwolle noch ein kleiner Player zu sein? (Anm.: Lyocell ist eine Marke des Herstellers Lenzing)
Ja, fast 30 Prozent aller Textilien weltweit werden aus Baumwolle gefertigt. Lyocell ist eine nachhaltige Faser aus Zellulose und hat einen sehr hohen Tragekomfort, ist aber nicht direkt mit Baumwolle zu vergleichen. Baumwolle ist schon viel älter und allein dadurch vielseitiger. Sie kann zum Beispiel in Form von Batist extrem zart und in Form von Canvas extrem robust sein. Mit Lyocell versucht man eher den Tragekomfort von Seide zu imitieren. Gleichzeitig ähneln die Funktionen der Wolle, die große Mengen an Wasser (Schweiß) aufnimmt und auch schnell wieder an die Umgebungsluft abgeben kann. Das heißt, Lyocell ist schnelltrocknend und trocknet auch schneller als Baumwolle. Dieses Argument überzeugt die Hersteller von Sportkleidung, wo es darum geht, über aktive und passive Phasen einen konstanten Tragekomfort zu erhalten. Auch in den Bereichen Unter- und Bettwäsche kommen die Fasern gut an. In der Mode steht Lyocell – im Vergleich mit Baumwolle – noch ganz am Anfang. Hier braucht es noch Stoffentwicklungen und Überzeugungsarbeit.
4 Baumwollanbau
In welche Richtung geht es, abseits von Bio-Baumwolle, deren Anbau ja auch sehr viel Wasser benötigt?
Man weiß nicht, ob es je eine Faser geben wird, die Baumwolle ablösen kann. Bio-Baumwolle ist softer als konventionelle Baumwolle. Außerdem ist sie pflegeleicht. Tragekomfort und Pflegeleichtigkeit sind zwei Eigenschaften, die nicht selbstverständlich aufeinander treffen. Man denke an Wolle und Seide, die zwar einen hohen Tragekomfort haben, aber weit weniger pflegeleicht als Baumwolle sind.
Baumwolle ist zuletzt wegen des hohen Wasserverbrauchs im Anbau in Misskredit geraten. Dieser entsteht aber mehr aus der Not als aus einer Notwendigkeit. Laut einem Pilotprojekt der niederländischen Mode-Innovationsplattform Fashion for Good könnte das Problem mit Präzisionslandwirtschaft und entsprechenden Bewässerungstechnologien schon bald gelöst werden. In der Präzisionslandwirtschaft arbeitet man mit Sensoren. Dadurch kann man den Baumwollpflanzen zum richtigen Zeitpunkt die richtige Menge an Wasser und Nährmitteln zuzuführen. Statt Pestiziden werden natürliche Fressfeinde von Schädlingen eingesetzt. Der Pilot läuft gerade im indischen Gujarat, das an widrigen Produktionsbedingungen leidet. Aber die Technologie soll trotz Hitze und Trockenheit hochwertige Baumwolle hervorbringen. Das würde zusätzlich die Flächenkonkurrenz in der Landwirtschaft entschärfen (Stichwort: Tank-Teller-Konflikt).
Mehr zum Projekt lesen Sie hier: Luxusmodekonzerne setzen sich ein, dass Baumwollanbau ressourceneffizient wird
Der in Israel forschende Wissenschafter, Dr. Filipe Natalio geht davon aus, dass Baumwolle nicht wegzudenken ist, weshalb er an nachhaltigen Produktionsmethoden forscht. Dabei ist es ihm nicht nur gelungen, eine nachhaltige Produktionsmethode für Baumwolle zu entwickeln, sondern auch eine Art von Baumwolle, die zusätzlich intelligent ist. Das heißt, er lässt Baumwolle gleich in Farben oder mit wasserabweisenden Eigenschaften wachsen. Durch diese Innovation könnte der Färbeprozess entfallen und erdölbasierte Rohmaterialien, die zum Beispiel für Regenjacken verwendet werden, könnten durch einen nachwachsenden Rohstoff ersetzt werden.
Mehr darüber lesen Sie in diesem Artikel: Wie Baumwolle intelligent wird
Projekte zur Entwicklung von alternativen Stoffen stehen noch ganz am Anfang. Tendenziell geht es Richtung Abfallverwertung. Genutzt werden zum Beispiel Ernteabfälle wie etwa Blattfasern oder Produktionsabfälle wie etwa Milchreste und Schalen von Zitrusfrüchten.
Mehr zu textilen Materialien aus Abfallstoffen lesen Sie in diesem Artikel: Wie aus Bio-Abfall innovative Stoffe entstehen
5 Veganes Leder
Stichwort veganes Leder – welche Initiativen / Projekte gibt es aktuell?
Es gibt mehrere Ansätze, die sich wirklich schnell durchgesetzt haben. Das liegt daran, dass bei der Herstellung von Leder besonders aggressive Chemikalien (u.a. Chrom) verwendet werden, die Mensch und Umwelt gefährden. Zusätzlich wurde die Entwicklung durch den Veganismus beschleunigt. Der Trend ist auch schon in der Luxusindustrie angekommen. Erst kürzlich gab Hermés bekannt, Leder aus Myzelium verwenden zu wollen.
Aber hauptsächlich sind es Abfallstoffe, wie etwa Ananas- und Bananenblätter, die erstaunlich vielfältig verarbeitet werden können. Die Fasern der Bananenblätter können zu sehr robusten Stoffen verwebt werden, wie etwa in dem Verfahren, das das Schweizer Unternehmen Qwstion für seine Rucksäcke entwickelt hat.
Ein anderes Beispiel liefert Dr. Carmen Hijosa. Sie filzt die Fasern von Ananasblättern und presst sie zwischen Walzen zu einer stabilen Fläche. Eine Beschichtung macht das Material nicht nur wasserfest und widerstandsfähig, sondern auch färb- und bedruckbar.
Der Südtiroler Hannes Parth verwertet Reste aus Feststoffen, die beim Pressen von Apfelsaft übrig bleiben. Er verarbeitet sie erst zu Pulver, bringt sie dann in eine flüssige Form und trägt sie anschließend auf ein Trägermaterial (Stoff) auf. Die Fixierung erfolgt durch einen finalen Backvorgang. Apfelleder ist unter anderem beim Schweizer Taschenlabel Happy Genie zu sehen.
Bei diesem Verfahren sieht man auf der Rückseite des Leders das Trägermaterial (den Stoff). Das hat Fabio Molinas gestört, der im EU-Projekt Re-Fream ein sehr feines Lederimitat aus Korkresten entwickelte, das eine authentisch aussehende Rückseite hat. Dadurch kann man die Produkte auch ohne Innenfutter verarbeiten.
6 3D-Druck
Innovation scheint oft in Konflikt mit Nachhaltigkeit zu stehen. So wäre 3D-Druck z.B. eine vielversprechende Technik im Urban Factoring. Allerdings wird noch vorwiegend mit Kunststoff gearbeitet. Welche Entwicklungen siehst du hier?
3D-Druck ist spektakulär, weil er eine vollkommen neue Ästhetik ermöglicht. Iris van Herpen arbeitet bei ihren raumgreifenden Objekten mit Architekt*innen zusammen. Ihre Kollektionen spielen aber immer noch im Bereich der Kunst und werden von Museen und Sammler*innen angekauft.
Tatsächlich gibt es auch schon Filamente aus recyceltem Kunststoff und organischen Materialien, wie Algen oder Sojabohnen. Problematisch ist vielmehr der Tragekomfort, der bedingt durch Material und Herstellungstechnik noch nicht gegeben ist.
Ein Problem, das die in Los Angeles lebende österreichische Architektin und 3D-Designerin Julia Körner zu lösen versucht. Sie arbeitet mit dem belgisch-/amerikanischen 3D-Pionier Stratasys an einem Projekt, in dem 3D-Druck auf Textil aufgebracht wird, um so ein angenehmes Tragegefühl zu erzeugen. Im EU-Projekt Re-Fream ist sie dem Ziel wieder etwas näher gekommen.

7 Robotik und 3D
In den Lockdowns hat sich die Verletzlichkeit langer Lieferketten gezeigt. Nun denkt man darüber nach, die Produktion mit Technologien wie Robotik und 3D-Druck in die Absatzmärkte zurückzuholen. Inwiefern könnte Urban Factoring unsere Kleidung und unser Einkaufsverhalten verändern?
3D-Designer*innen sehen in 3D-Druck das neue Handwerk und die dezentrale Wirtschaft. Die Modelle können online global angeboten und lokal in Maker Shops realisiert werden. Durch die lokale Fertigung auf Anfrage wird Überproduktion vermieden und lange Transportwege entfallen.
Modeproduktion on-demand
Im Maker Shop können Konsument*innen ihre Körpergröße via 3D-Bodyscan einbringen und das Modell drucken lassen. Man geht davon aus, dass Konsument*innen durch die Personalisierung ein größeres Interesse haben, das Kleidungsstück länger zu tragen. Bis jetzt hakt die Umsetzung allerdings noch an der Drucktechnik, die langwierig und teuer ist.
Automatisierung der Modeproduktion
In Amerika ist die Fertigung von einfachen Kleidungsstücken schon voll automatisiert. Vom Stoffballen bis zum fertigen Kleidungsstück bedarf es keiner menschlichen Intervention mehr. Die Technologie wurde für die Rüstungsindustrie entwickelt. Für die Anforderungen der Modeindustrie ist die auf hohe Stückzahlen angelegte Technologie aber zu wenig sophisticated. Dem Nähroboter fehlt die Fingerfertigkeit. Er kann zwar steife Materialien wie Canvas oder Denim verarbeiten, aber keine flexiblen Stoffe wie Seide oder Tüll.
Modeproduktion in 3D
Bei zukunftsorientierten Fertigungstechnologien verfolgt man die 3D-Konstruktion und strebt damit eine neue Dimension von Passform und Bewegungsfreiheit an. In der Umsetzung sind vollkommen neue Techniken gefragt. In 3D-Druck und 3D-Strick ist die Entwicklung von Fertigungstechniken schon fortgeschritten. Im Bereich des Nähens verfolgt das österreichische Start-up Yokai Studios einen interessanten Ansatz, der im EU-Projekt Re-Fream weiterentwickelt wurde. Die beiden Gründer haben eine eigene Schnitt-Technik entwickelt und einen Roboterarm mit Werkzeugen für die 3D-Fertigung. Die Naht ist als Bonding vorzustellen, als eine Art Klebestreifen, der die zwei Stoffteile verbindet. Am Ende soll es möglich sein, innerhalb von Minuten ein individualisiertes Kleidungsstück auf Nachfrage automatisch herzustellen.
8 Prekäre Arbeitsverhältnisse
Siehst du eine reelle Chance, die oft prekären Arbeitsverhältnisse in den Niedriglohnländern zu beenden – alternative Beschäftigungskonzepte für die unzähligen Näher*innen in China und Indien? Oft wird ja damit argumentiert, dass die Näher*innen zwar wenig verdienen, aber ohne die Modeindustrie gar keine Arbeit hätten.
Die Textilarbeiter*innen in den Niedriglohnländern könnten vom Abzug der westlichen Modeproduktion sogar profitieren. Nämlich dann, wenn die betreffenden Länder im Gegenzug die lokale Landwirtschaft fördern würden. Das ist die Lösung, die NGOs sehen. Aber ich weiß, dass das Argument auch innerhalb von NGOs kontrovers diskutiert wird. China ist diesen Schritt in manchen Regionen schon erfolgreich gegangen. Außerdem wurden auch die Produktionspreise erhöht und es bleibt zu hoffen, dass auch die Textilarbeiter*innen davon profitieren.
Ruf nach gesetzlicher Regelung
In den ärmsten Ländern produzieren vor allem Modediskonter, die ausschließlich Preispolitik betreiben. NGOs setzen sich für Löhne ein, welche die Lebenshaltungskosten in den Ländern wirklich decken. Die Fabriksbesitzer wollen aber ihre Aufträge nicht verlieren und wagen es deshalb nicht, die Preise zu erhöhen. Höhere Löhne wären tatsächlich nur mit gesetzlichen Regelungen zu erreichen.
Positiv stimmt, dass globale Konzerne wie die französische Kering Gruppe und die amerikanische PVH Corp Geld und Wissen in Forschungsprojekte investieren, die die Situation von Textilarbeiter*innen verbessern könnten. Ich habe das Projekt bereits oben erwähnt. Organisator ist die niederländische Modeinnovationsplattform Fashion for Good. Wenn es mithilfe von Präzisionslandwirtschaft möglich wird, auch in trockenen und heißen indischen Regionen hochwertige Baumwolle anzubauen, dann könnte das auch die sozialen Verhältnisse der Baumwollbauern wesentlich verbessern.
Mehr dazu lesen Sie in diesem Artikel: Luxusmodekonzerne investieren in ressourceneffizienten Baumwollanbau
In der Europäischen Union will man aber nicht länger auf die freiwillige Verpflichtung der Industrie warten und plant ein Lieferkettengesetz. Mit diesem soll die Verantwortung für ökologische und soziale Belange entlang der Lieferkette auf die europäischen Modeherstellern übergehen.
9 Virtuelle Mode
Gucci hat unlängst einen virtuellen Sneaker gelauncht, den man für zwölf Dollar erwerben und seinem digitalen Ich anziehen kann. Der virtuelle Raum öffnet hier ganz neue Möglichkeiten – Spielerei oder Zukunftsmusik mit wirtschaftlichem Potential?
Spielerei UND zukünftiges wirtschaftliches Potenzial, würde ich sagen. Wie immer ist es auch eine Frage der Aneignung von neuen Technologien. 3D- und Virtual Reality-Künstler rechnen fest damit, dass sich die Technologie kommerziell umsetzen lässt. Spätestens mit der sogenannten Generation Y, die die Welt vor der Digitalisierung nicht mehr kennt und viel Zeit in den Sozialen Medien und mit Onlinespielen verbringt.
Die Protagonist*innen argumentieren mit Nachhaltigkeit und Diversität. Dazu ein Beispiel: Das kroatische Designerkollektiv Tribut Brand verkauft seit dem ersten Lockdown gewagte Modekreationen, in der sich User*innen in den Sozialen Medien präsentieren können. Die zugrunde liegende Hypothese: Die virtuelle Mode ersetzt reale Mode.
Die Modeindustrie nutzt die Technologie bis jetzt erst vorwiegend zu Marketingzwecken, wie auch das Beispiel Gucci zeigt. Andere Labels launchen virtuelle Produkte, um sie später dann doch zu produzieren. In der Industrie wird das nachhaltige Potenzial von virtueller Mode also noch nicht wirklich genutzt.
Über entsprechende Konzepte lesen Sie in diesem Artikel: Cyber Fashion – völlig untragbar
10 Intelligente Textilien
Stichwort Smart Textiles: Vom Funktionstextil hin zum Modeartikel – was ist schon möglich, was wird künftig möglich sein? Kannst du uns hier ein paar Beispiele nennen?
Wenn man Smart Textiles auf ihre Brauchbarkeit in der Mode hin untersucht, bleibt erstaunlich wenig übrig, da sie vorwiegend in Medizin und Sport eingesetzt werden. Smart Textiles unterscheidet man in elektronische Textilien und Textilien aus Funktionsfasern. Elektronische Textilien messen Körperfunktionen wie etwa den Puls und werden in Sport und Medizin verwendet. Textilien aus Funktionsfasern eignen sich vor allem für die Sportausübung und für anstrengende berufliche Tätigkeiten. Sie haben die Fähigkeit, Schweiß rasch von der Haut weg zu transportieren und an die Umgebungsluft abzugeben. Dadurch liegt der Stoff auch bei anstrengenden Aktivitäten weitgehend trocken auf der Haut und die Erkältungsgefahr sinkt. Problematisch an Funktionsfasern ist, dass sie noch immer in hohem Maß aus erdölbasierten Kunststoffen bestehen – und wesentlich zur Mikroplastik-Verschmutzung beitragen.
Merinowolle und Lyocell
Eine Alternative zu fossil basierten Kunststoffen bieten Merinowolle und Lyocell, die sich auch für Alltagskleidung eignen. Beide Materialien liegen angenehm auf der Haut und sind schnelltrocknend und temperaturregulierend. Als solches haben sie das Potenzial das Wohlbefinden zu unterstützen. Als modeorientierte Weiterentwicklung von Lyocell ist Seacell zu nennen, eine textile Faser, die Inhaltsstoffe aus der Alge enthält. Diese wirken pflegend und beruhigend auf die Haut. Die Integration der Inhaltsstoffe erfolgt im Spinnprozess, dadurch waschen sich diese nicht aus.
Zukunftsweisende Alternative zu Kunststoff
Als zukunftsweisende Alternative zu fossilen Kunststoffen werden Algen gehandelt. Vor allem aber würden sie karbonneutrale Produkte ermöglichen, weil sie – wie Pflanzen allgemein – bei der Photosynthese Kohlendioxid in ihrer Biomasse speichern.
Eben diese Photosynthese ist es, die die kanadisch-iranische Designerin Roya Aghighi auch in Kleidungsstücken andauern lassen will. Sie hat einen Mantel aus der einzelligen Chlamydomonas reinhardtii-Alge entwickelt. In diesem Mantel können die Algen immer wieder zum Leben erweckt werden – einfach, indem man sie mit Wasser besprüht und zwei Stunden lang dem Sonnenlicht aussetzt. Das befähigt die Algen die Umgebungsluft durch Photosynthese zu reinigen und einen Teil der von den Nutzer*innen verursachten Umweltschäden zu reduzieren.
11 Haute Couture
Welche innovativen und nachhaltigen Technologien sind bereits in der Haute Couture angekommen? Und ist die Haute Couture nach wie vor Trendsetter für Ready-to-wear und Fast Fashion Brands?
Die Pariser Haute Couture hatte ihren Höhepunkt 1947, verlor aber bis in die 1960er Jahre enorm an Bedeutung. Der Titel ist rechtlich geschützt und darf mittlerweile nur mehr von 14 Pariser Modehäusern geführt werden. Lidewij Edelkoort prognostizierte in ihrem Antifashion Manifest 2015 ein Comeback der Haute Couture, einer Haute Couture, die experimentell ist und die Modeindustrie inspiriert. Es gibt auch jetzt schon progressivere Tendenzen, so ist etwa auch Maison Margiela Mitglied der Fédération de la Haute Couture et de la Mode. Aber Haute Couture müsste vollkommen neu definiert werden, um zeitgenössischen Tendenzen gerecht zu werden.
Einen Artikel über Edelkoorts Antimode-Manifest lesen Sie hier: Edelkoort: Antimode-Manifest
Bisweilen sind es Universitäten, Forschungseinrichtungen und Inkubatoren, die Innovationen liefern. Inkubatoren unterstützen Start-ups in der Unternehmensgründung. Seit 2020 hat auch die Weltmetrolole der Mode, Paris, einen eigenen Fashion-Tech-Inkubator namens Foundry.
Paradigmenwechsel in der Ausbildung
In London gibt es schon sehr viele innovative Studiengänge. Am Central Saint Martins College of Art and Design wurde zum Beispiel gemeinsam mit dem französischen Luxusmodekonzern LVMH das Nachhaltigkeitsprojekt Maison /0 ins Leben gerufen. Die Studentin Elissa Brunato entwickelte etwa biologische Pailletten, die ohne chemische Zusätze matt schimmern. Herkömmliche Pailletten sind aus dem fossilen Rohstoff Erdöl gefertigt und sowohl die Nutzung als auch die Entsorgung tragen zur Mikroplastikverschmutzung bei. Brunatos Technologiepartner war RISE, Research Institutes of Sweden. Brunato’s Start-up läuft unter dem Namen Radiant Matter.
Modedesign und Forschung
Tatsächlich liegt viel Potenzial in interdisziplinären Kollaborationen von Kreativen mit Forschenden. Aber Modedesigner*innen werden auch selbst lernen, wissenschaftlich zu arbeiten. Das ist ein Weg, den die Kunstuniversität Linz mit dem Studienzweig Fashion & Technology beschreitet. Dabei gehen die Student*innen ergebnisoffen in Projekte und können handwerklich oder mit neuen Technologien arbeiten. D.h. am Ende kann es doch wieder ein handwerklicher Ansatz sein, der zum gewünschten Ergebnis führt – und das ist gut so. Weil sowohl Handwerk als auch Technik limitiert sind. Spannend sind die Schnittstellen.