Gothic & Lolita: Mehr als eine Modeerscheinung

Gothic & Lolita ist eine Subkultur und keine Modeerscheinung. Zu diesem Schluss kam Evamaria Agy in ihrer Diplomarbeit, die 2010 unter dem Titel ‚Gothic & Lolita Mode in Japan‘ erschien.

Gothic & Lolita ist ein Bekleidungsstil, der von jungen Mädchen in Japan ins Leben gerufen wurde und weltweit Verbreitung fand. Corsagen, weite Röcke, Kniestrümpfe und Mary Jane-Schuhe geben den Anhängerinnen ein puppenhaftes Aussehen.

Evamaria Agy verfolgt in ihrer Diplomarbeit die Frage, ob das Phänomen Gothic & Lolita als Modeerscheinung oder als Subkultur zu kategorisieren sei. Sie kommt zu dem Schluss, dass Image, Haltung und Jargon, die drei Merkmale, die nach Mike Brake und Dick Hebdige kennzeichnend für eine Subkultur sind, auf das Phänomen umgelegt werden können. Nach Brake (1981: 22) fungiert der subkulturelle Stil als eine Art Jargon. Dessen einzelne Teile sind der dominanten Mode entnommen und werden mittels Collagierung im Szenekontext – in eine eigene »Sprache« übersetzt. Die Attribute wirken identitätsbildend und sollen Aufmerksamkeit von außen generieren, so Brake. Auch Hebdige (1991: 132) verweist auf den expressiven Charakter von Jugendkulturen, ortet in deren Bekleidungscodes aber eine grundlegende Spannung zwischen »den Mächtigen und jenen in untergeordneten Positionen«.

Eingeschüchtert von westlichen Modeidealen

Die Designer hinter dem beliebten Label »Baby the Stars Shine Bright« (BSSB), Hirooka und Isobe sehen in Gothic & Lolita eine Rebellion gegen die japanische Gesellschaft. Sie wurden vom Journalisten Eric Talmadge für einen Artikel interviewt, der in der englischen Online-Ausgabe der Japan Times unter dem Titel »Tokyo’s Lolita scene – all about escapism« (7. August 2008) erschienen ist. Hirooka sieht Gothic & Lolita als eine Flucht in eine kindliche Welt der Niedlichkeit. Dahinter steht die Beobachtung, dass sich viele junge japanische Frauen von dem große und kurvige Körper erfordernden westlichen Schönheitsideal eingeschüchtert fühlen. Weiters vermutet Hirooka hinter dem Phänomen ein Hinauszögern der Rolle als Ehefrau und Arbeitskraft. Auch solle die Gothic & Lolita Mode keineswegs attraktiv auf Männer wirken. Vielmehr diene sie als eine Art Zufluchtsort japanischer Frauen und Mädchen vor dem Druck der männlich dominierten japanischen Gesellschaft.

Rückzug aus der Gesellschaft

Ein weiterer Artikel in oben genanntem Medium wurde von David McNeill (2004) verfasst und erschien unter dem Titel »Lolita’s Bard is sitting pretty«. McNeill schreibt über den Roman »Shimotsuma Monogatari« von Takemoto Novala (2002) und dessen Verfilmung durch Nakashima Tetsuya (2004) unter dem Titel »Kamikaze Girl«. Der Roman erzählt die Geschichte einer Lolita, die erst nachdem sie ihre selbstsüchtigen Lolita-Prinzipien für den Erhalt einer Freundschaft aufgegeben hat, den Weg aus der sozialen Isolation findet. Im Interview sagt Buchautor Novela, dass seine Leserinnen in der Gesellschaft ein Unbehagen empfinden und sich deshalb zurückgezogen haben. Er schreibt regelmäßig eine Kolumne in einer Gratiszeitschrift für Kunst und ist über Leserzuschriften in direktem Kontakt mit seiner Zielgruppe. Der Journalist McNeill schließt in diesem Artikel, dass die Anhänger von Gothic & Lolita die schmutzige Welt der Erwachsenen ablehnen. Eine Haltung, die er nicht zuletzt aus deren beliebten Motiven liest: Waisenkinder, Engel, niedliche Comicfiguren und verlorene Prinzessinnen.

Neo Masochismus der japanischen Jugend

Geoff Botting ist ein weiterer Journalist, der in der englischen Online-Ausgabe der Japan Times (11.07.2004) zum Thema publizierte. Unter dem Titel: »Gothic Lolitas’ at Cutting Edge« bringt er Todessehnsucht und depressionsbedingte Selbstverletzung ins Spiel. Er referiert auf die Publikationen des klinischen Psychologen Yahata Yo zum Neo-Masochismus der japanischen Jugend. Weniger fundiert die Referenz auf einen Kriminalfall, in dem eine 16-Jährige ihren Vater mit einem Beil erschlug. Sie soll bei der Tat ein schwarzes Kleid getragen haben. Die Medien wussten, dass sie vom Manga »Fullmetal Alchemist« beeinflusst war. Darin taucht ebenfalls ein Mädchen im schwarzen Kleid auf und mordet mit einem Beil.

Gothic Lolitas: Von den Medien skandalisiert

Die öffentliche Wahrnehmung des Gothic & Lolita Phänomens zeigt sich sehr ambivalent. Von den oben zitierten ausländischen Journalisten in der englischen Online-Ausgabe der Japan Times wird der düstere Gothic-Aspekt betont indem die Protagonistinnen mit Eskapismus, Borderline, Todessehnsucht und Aggression in Verbindung gebracht werden. In japanischen TV-Shows gibt es speziell bei männlichen Moderatoren die Tendenz, die Mädchen naiv und mit schlechtem Benehmen darzustellen, das fand Isaac Gagné 2008 in seiner linguistischen Studie »Urban Princesses: Performance and »women’s language in Japan’s Gothic/Lolita subculture«) heraus.

In einer neutraleren Berichterstattung wird Gothic & Lolita als in den Westen strahlende Modeerscheinung betrachtet und aus dieser kommerziellen Perspektive positiv bewertet.

Der Gothic & Lolita Film: Kamikaze Girls

Die Heldin des Films, Momoko Ryūgasaki prägte das Bild der Gothic Lolita innerhalb der Gothic & Lolita Community und der japanischen Gesellschaft. Ihre Eltern haben sich getrennt und sie lebt mit ihrem Vater auf dem Land. Zu Beginn des Films hat sie sich dem süßen Lebensgefühl Frankreichs in der Rokoko Zeit verschworen, einer Ära in der sich adelige Damen beim Sticken oder Spazierengehen vergnügten. (Nakashima 2004:02:33, Kapitel 1). In der Unterstufe beginnt sie zu sticken und in der Oberstufe erwacht ihr Interesse für Lolita Kleidung. Ein besonderes Faible hat sie für die Kleider der Marke »Baby the Stars Shine Bright«. Um sich die teuren Kleider kaufen zu können, belügt Momoko ihren Vater und gibt vor, das Geld für Freunde in Not zu brauchen. In Wirklichkeit hat sie jedoch keine Freunde. Momoko weiß, dass sie von Grund auf schlecht ist, rechtfertigt ihre Auffassung aber mit dem Geist des Rokoko, der Dinge gutheißt, die glücklich machen und sich gut anfühlen (Nakashima 2004: 16:40, Kapitel 2). Um den Rokoko Schönheitsidealen zu entsprechen, nimmt sie nicht am Sportunterricht teil und will sich bewusst feminin bewegen (Nakashima 2004: 23:49, Kapitel 3). Das Mädchen verabscheut nicht nur körperliche Betätigung sondern auch Arbeit. Auch mag sie kein saures Essen, sondern ernährt sich von Süßigkeiten.

Momoko pflegt keinerlei zwischenmenschliche Beziehungen und verhält sich unkollegial, indem sie z.B. ausgeborgte Dinge nicht zurückgibt. Sie sieht sich allein durch’s Leben gehen und irgendwann alt und einsam in einem Kleid von »Baby the Stars Shine Bright« sterben – einzig entdeckt von ihrem Haushaltsroboter … Gleichzeitig scheint sie ihr Leben nicht zu mögen, denn in ihren Tagträumen erhebt sie sich in die Lüfte und fliegt in eine andere, schöne Welt (Nakashima 2004: 38:40, Kapitel 8)

Als ihr Vater seine Arbeit verliert und sie kein Geld mehr von ihm bekommt, wird sie doch aktiv, indem sie seine gefälschten Versach Waren verkauft. Versach bezieht sich auf Versace, im Film ist der Begriff mit Piepton zensuriert. So trifft sie auf die gleichaltrige Ichiko, die einer Motorrad Mädchengang angehört. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft.

Als Momoko eines Tages Löcher in ihrem Bonnett stopft und mit kunstvoller Stickerei verziert, entdeckt sie ihr Talent und bekommt schließlich Arbeit als Stickerin. In einer Textpassage macht sich Momoko laut Gedanken über Kleidung: »Kleidung ist mein Lehrer, sie lehrt mich die Lebensweise; wenn ich wunderbare Kleidung treffe und angestrengt darüber nachdenke, was ich tun soll, um eine Person zu werden, der diese Kleidung passt, dann bekomme ich eine Antwort: Die Kleidung sagt mir, dass meine Lebenserfahrung noch nicht genug sei, um sie zu tragen, dass ich zwar meinte, diese Kleidung würde mir stehen, aber mir in Wirklichkeit eine ganz andere Kleidung passt oder so.«

Der Film endet in einem Happy End und einer innigen Freundschaft. Momoko verwirft ihre Prinzipien, streift ihr steifes Lolita-Verhalten ab und beschützt ihre Freundin vor den Yankees.

Lolita Couture

»Gothic & Lolita« gilt als Substil der japanischen Lolita Mode. Unter dem Überbegriff »Lolita« finden sich außer Gothic noch weitere Stile wie »Sweet Lolita«, »Grotesque Lolita« oder »Punk Lolita«.
Auffallend am Gothic & Lolita-Stil ist dessen Widersprüchlichkeit. Sweet Lolita ist an hellen Farbtönen und süßen Motiven zu erkennen und Grotesque Lolita trägt Bandagen und Kunstblut. Als Ikone der Punk Lolita-Bewegung gilt die amerikanische Sängerin Amy Lee der Band Evanescence.

Ihre Kleidung beziehen Gothic & Lolita Trägerinnen hauptsächlich von japanischen Designern und Labels. Schon in den 1970er Jahren entstanden Labels, die als Vorboten des Stils gelten und sich teilweise bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Darunter »Milk«, »Pink«, »Jane Marple« und »Shirley Temple« sowie dessen Sublabel »Emily Temple Cute« (Matsuura, 2007:45). In den 1980er Jahren läutete das Label »Metamorphose Temps de Fille« eine neue Stilära ein. Die Entstehung der Gothic & Lolita-Bewegung markiert das 1988 in Tokyo gegründete Label »Baby the Stars Shine Bright«.

Westliche Designermarken sind bei Gothic & Lolita Trägerinnen eher eine Ausnahmeerscheinung. Großer Beliebtheit erfreut sich die historisierende britische Designerin Vivienne Westwood. Im Second Hand Online Shop »https://global.rakuten.com/en/store/tokyoalice/« der Gothic & Lolita-Szene sind weiters die Designer Jean Paul Gaultier (Paris) und Comme des Garcons (Tokyo) zu finden.

Webtipps

Baby the Stars Shine Bright, Shibuya/Tokyo
http://www.babyssb.co.jp/
zuletzt abgerufen am 24.07.2018

Das Label wurde 1988 vom Ehepaar Akinori und Fumiyo Isobe gegründet. Der Labelname wurde dem Albumtitel der englischen Popmusikgruppe »Everything but the Girl« entlehnt. BSSB steht primär für Sweet Lolita Styles, hat aber auch Gothic Styles im Programm. Seit 2009 hat das Label nicht nur in Japan Stores, sondern auch je in Paris und San Francisco einen Store. In USA kostet ein Kleid ca. 300 $. Eine zeitlang sponserte BSSB auch die Linie »Pour Lolita« des Autoren Novala Takemoto. Allerdings wurde jegliche Zusammenarbeit anulliert, als dieser im September 2007 wegen Marijuana Besitzes gegen das japanische Cannabis Kontrollrecht verstieß.

Gothic & Lolita Bible

http://www.enjoy-your-style.com/gothic-and-lolita-bible.html

zuletzt abgerufen am 24.07. 2018

Die englische Version des Magazins wird in Lizenz vom amerikanischen Verlag Tokyo Pop herausgegeben. Die Gothic & Lolita Bible erscheint in unregelmäßigen Zyklen und hat einen Umfang von ca. 125 Seiten. Die Rubriken zeigen die Diversität des Stils. Themen, die nicht unmittelbar dem Titel entsprechen, sind nicht zu finden. Jede Ausgabe enthält einen Schnittmusterbogen. Meistens erscheinen auch Street Style Reportagen aus Metropolen weltweit. Auch die aufwändigen Frisuren werden immer wieder gefeatured.

Evamaria Agy (2010): Gothic & Lolita Mode in Japan. Diplomarbeit. Universität Wien. http://othes.univie.ac.at/10089/1/2010-05-18_0400043.pdf
zuletzt abgerufen am 24.07.2018

Hildegard Suntinger

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1 Kommentar zu „Gothic & Lolita: Mehr als eine Modeerscheinung“

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