Sonja Bäumel, Entangled Relations, Amöbe

Sonja Bäumel: Der menschliche Körper als ein Ort sozialer und biologischer Verflechtungen

Sonja Bäumel beschäftigt sich seit 14 Jahren mit Mikroorganismen, die sich in, auf und um den menschlichen Körper befinden. Derzeit ist ihr Werk Expanded Self in der Gruppenausstellung THREADS OF LIFE – Textiles in Medicine and the Arts im Angewandte Interdisciplinary Lab (AIL) zu sehen. Die Ausstellung geht der Verwendung von Textilien in der Medizin und in der Kunst nach.

Foto oben: MAK Ausstellungsansicht, 2023 ENTANGLED RELATIONS — ANIMATED BODIES, der Österreich-Beitrag der Künstlerin Sonja Bäumel zur 23. Internationalen Ausstellung der Triennale di Milano 2022 © kunst-dokumentation.com/MAK

Ursprünglich strebte Sonja Bäumel eine Modekarriere an. Sie besuchte erst die Modeschule Hetzendorf in Wien und absolvierte dann ein Bachelor-Studium in Modedesign an der Kunstuniversität Linz. Für ihren Master übersiedelte sie in die Niederlande, wo sie an der Designakademie Eindhoven das Fach Conceptual Design in Context belegte. Für eine wissenschaftliche Arbeit absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt an der Universität Wageningen,  wo sie sich die Grundlagen der Mikrobiologie aneignete und mit Textil und Hautbakterien zu experimentieren begann. 

Das Individuum als Metaorganismus

Seither erforscht sie verschiedene Aspekte von Mikroorganismen und knüpft in ihren Arbeiten an den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs an. Denn, geht man in traditionellen wissenschaftlichen Theorien davon aus, dass ein Organismus eine durch seine Haut von der Umwelt abgegrenzte Einheit ist, kommen neuere Forschungen zu einem anderen Schluss. Vieles weist darauf hin, dass es sich weniger um eine abgegrenzte Einheit, als um einen dynamischen und interaktiven Zusammenschluss einer Vielzahl von Lebewesen und Prozesse handelt. Im Falle des Menschen schätzt man, dass fünfzig Prozent der Zellen des menschlichen Körpers aus Mikroorganismen bestehen. Das sind Befunde, welche die Vorstellung des Individuums als Metaorganismus nahelegen.

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Crocheted Membrane

In ihrem ersten Projekt Crocheted Membrane (2008-2009) wandte sie diese Theorie an, indem sie mit den Mikroorganismen experimentierte, welche die Haut besiedeln. Sie wollte sie zum Aufbau einer zweiten Hautschicht nutzen, die vor Kälte schützt. Das Projekt basierte auf wissenschaftlichen Daten, welche die menschlichen Körperzonen mit dem größten Wärmebedarf auswiesen. Diese Daten wurden künstlerisch in gehäkelte Körperteile umgesetzt, welche die kälteempfindlichsten Körperzonen – anhand der Maschendichte – darstellten. Das heißt, je dichter das Maschenbild, desto stärker ist der Wärmebedarf. In diesem Konzept steht die Häkelarbeit für eine durchlässige Membran, welche als Schnittstelle zwischen Körper und Außenwelt dient. 

Expanded Self

Im Projekt Expanded Self, das derzeit in der Gruppenausstellung THREADS OF LIFE – Textiles in Medicine and the Arts im Angewandte Interdisciplinary Lab (AIL) zu sehen ist, arbeitet Sonja Bäumel mit den Bakterien auf ihrer eigenen Haut. Sie nutzt Labormethoden, um die Bakterien abzunehmen und auf ein Nährsubstrat zu übertragen, wo sich diese entwickeln können. So wird sichtbar, was sonst unsichtbar ist: Die mikrobiologischen Organismen auf der Haut, die lebenswichtige Funktionen erfüllen und unter anderem ermöglichen, dass die Haut schützende Abwehrmechanismen entwickeln kann. Das lebende Bild befindet sich in einer Vitrine, wo die kunstinteressierten Besucher das Zellwachstum über die Dauer der Ausstellung beobachten können. Mit dem Werk hinterfragt Sonja Bäumel den Körper als geschlossene Einheit und forscht nach einem neuen, erweiterten Bild der Identität.

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Wissenschaftliche Theorien

In ihrem aktuellen Werk Entangled Relations – Animated Bodies das von 01.02. bis 21.05.2023 im Museum für Angewandte Kunst (MAK) Wien, zu sehen war, bezieht sich die Künstlerin unter anderem auf überlebenswichtige Funktionen, die Mikroben für uns erfüllen und denen wir uns gar nicht entziehen können. Die philosophischen Grundlagen fand sie unter anderem in den poststrukturalistischen Theorien der amerikanischen Wissenschafterin Donna Haraway. Die Naturwissenschafterin und Philosophin distanziert sich von romantischen Vorstellungen von sozialem Zusammenleben und verweist auf das Risiko, das dem Zusammenleben innewohne. Denn um Gemeinsamkeit zu erleben, müsse man sich dem Andersartigen öffnen und das mache zunächst verletzbar.

Sonja Bäumel Entangled Relations Kunst,Contemporary Art
MAK Ausstellungsansicht, 2023
ENTANGLED RELATIONS—ANIMATED BODIES, der Österreich-Beitrag der Künstlerin Sonja Bäumel zur 23. Internationalen Ausstellung der Triennale di Milano 2022
MAK Forum © kunst-dokumentation.com/MAK

Auf naturwissenschaftlicher Ebene inspirierte sich Sonja Bäumel in Entangled Relations – Animated Bodies an den Eigenschaften der Amöben, die in dem Werk den Mikrokosmos darstellen. Amöben besitzen keine feste Körperform, sondern verändern ihre Form laufend. Wenn die Zellen gemeinsam wandern, sind sie in der Lage kollektive Körper zu bilden und sich auf koordinierte Weise zu bewegen. Mit dieser Fähigkeit lassen Amöben die Vorstellung von einem Individuum verschwimmen.

Inklusives Gesellschaftsmodell

Zwei wissenschaftliche Theorien, aus denen Sonja Bäumel die Utopie eines inklusiven Gesellschaftsmodells entwickelt, eines, in dem der menschliche Körper ein Ort sozialer und biologischer Verflechtungen ist; ein Ort, an dem es keine Kategorien wie Art und Geschlecht gibt. Wieder arbeitet die Künstlerin mit der Vorstellung einer zweiten lebenden Schicht zwischen Körper und Umgebung. Diesmal wird diese aber zur Metapher für das symbiotische Ökosystem alles Lebenden.

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Sonja Bäumel erforscht das mikrobielle Ökosystem, um die Interaktionsmuster zu entschlüsseln, die Menschen, Tiere, Pflanzen und Objekte verbinden. Das Instrument, das sie dazu nutzt, sind Metaphern, die auf biologischen Kooperationsmodellen basieren. Ein Beispiel dafür ist das Phänomen Quorum Sensing, ein Kommunikationssystem von Mikroben. Der Begriff Quorum geht auf den römischen Senat zurück und beschreibt den Vorgang, bei dem ein Kollektiv durch Verhandlung zu einer Entscheidung kommen muss.

Mit dieser Herangehensweise möchte Sonja Bäumel bisweilen unerkannte Formen von Bewegung, Intelligenz und Kommunikation offenlegen – und Anstöße liefern, die Beziehungen zwischen verschiedenen Lebensformen neu zu verstehen, zu erforschen und erlebbar zu machen.

Sonja Bäumel Entangled Relations Kunst, contemporary
Performance: Choreographin und Performerin Doris Uhlich Installationsansicht des österreichischen Beitrags ENTANGLED RELATIONS—ANIMATED BODIES zur 23. Internationalen Ausstellung der Triennale di Milano, Installation von Sonja Bäumel, beauftragt und kuratiert vom MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien © Gianluca Di Ioia/MAK

Riesige Amöbe

Die Idee der wesensübergreifenden Beziehungen stellt die Künstlerin mit einer raumgreifenden Installation dar, die sie mit multisensorischen und performativen Elementen kombiniert. Sie betont die immense Bedeutung der Amöbe, indem sie sie 40.000-fach vergrößert, so dass sie größer als der Mensch ist. Die Riesenamöbe hat sie gemeinsam mit Vitalie Lesan in monatelanger Handarbeit angefertigt.

Die Installation wird von einer dynamischen Videoprojektion einer echten Amöbe überlagert. Die Aufnahmen stammen vom niederländischen Künstler Wim van Egmond. Um die Welt der Mikroben auch akustisch wahrnehmbar zu machen, entwickelte die Künstlerin gemeinsam mit Eva Mahhov einen speziellen Sound. 

Die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Mikroorganismus wurden in zwei Life Performances erlebbar, welche Sonja Bäumel gemeinsam mit der Choreographin Doris Uhlich entwickelte. 

Mit Entangled Relations – Animated Bodies vertrat Sonja Bäumel Österreich auf der 23. Triennale in Mailand. Die internationale Kunstausstellung hatte das Thema – Unknown Unknowns – an Introduction to Mysteries (15.07.22 – 08.01.2023) und war von 01.02. bis 21.05.2023 im MAK – Museum für Angewandte Kunst in Wien zu sehen. Die oben erwähnte Gruppenausstellung THREADS OF LIFE – Textiles in Medicine and the Arts im Angewandte Interdisciplinary Lab (AIL) Wien läuft noch bis 14. Juli 2023.

Hildegard Suntinger

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