Dank 3D-Stricktechnologien ist die Produktion on-demand keine Fiktion mehr. Ein Pullover könnte in ein bis zwei Stunden automatisch nach Maß angefertigt werden. Knit & Wear nennt man dieses Prinzip, bei dem das Kleidungsstück schon in seiner endgültigen Form aus der Strickmaschine kommt. Das wäre umweltfreundlich, weil es die komplexe Lieferkette auf eine Software, einen Garnhersteller und eine lokale Produktion reduzieren könnte. Überproduktion, soziale Ausbeutung in Billiglohnländern, lange Transportwege und die damit verbundenen CO2-Emissionen wären Vergangenheit.
Dieser Artikel erschien am 28.02.2023 in Die Presse Schaufenster: Mode, Vasen, Möbel: Was 3D-Strick alles kann
Darüber hinaus ist 3D-Strick materialeffizient und erfordert so gut wie keine manuelle Arbeit. Wie allgemein beim Stricken wird auch im 3D-Strick nur so viel Garn verwendet wird, wie notwendig ist.
Aber vor 3D-Strick konnte man Strickkleidung nur in einzelnen Schnittteilen verarbeiten. Also entweder nach Schnitt stricken oder aus Meterware zuschneiden. Bei beiden Methoden müssen die einzelnen Teile manuell zusammengenäht werden. Problematisch am Zuschnitt ist, dass etwa 30 Prozent Abfall entsteht. Bis heute werden alle diese Techniken angewendet. Aber die ökonomischen und ökologischen Vorteile von 3D-Strick sprechen für sich – und würden in der nachfrage-orientierten Herstellung die höchste Wirkung entfalten.
Der Sportbekleidungshersteller Adidas hat Knit & Wear schon 2016 umgesetzt. KundInnen wurden in einem Pop-up-Store vor Strickmaschinen empfangen und konnten einen angepassten Strickpullover fertigen lassen. Statt einer Umkleidekabine gab es eine Kabine, in dem ein Bodyscan angefertigt wurde. Außerdem konnten verschiedene Farben und Muster auf den Körper projiziert werden, um die Auswahl zu erleichtern. Innerhalb von drei Stunden war der maßgefertigte Pulli dann abholbereit. Diese on-demand-Produktion könnte seitens der KonsumentInnen zu einer längeren Tragedauer führen. Weil Menschen zu gutsitzenden und individuell angepassten Kleidungsstücken eine engere Beziehung entwickeln, so die Annahme von ForscherInnen. Aber der Wandel scheint zu radikal, um von heute auf morgen vollzogen zu werden.

Zu komplex für EndverbraucherInnen
„VerbraucherInnen finden das Knit & Wear-Procedere zu unübersichtlich und komplex und wollen einfach nur etwas kaufen, das ihnen gefällt“, sagt die Strickexpertin Friederike Pfeffer aus Bremen.
Zu diesem Schluss kam sie mit ihrem eigenen on-demand-Projekt Woollaa. Besser funktioniere die on-demand-Produktion auf Business-to-Business-Ebene. Weshalb sich Pfeffer, die gemeinsam mit ihrem Mann arbeitet, in einem zweiten Anlauf nun an Modelabels wendet. Diese haben das Problem, dass die konventionelle Produktion an hohe Stückzahlen gebunden ist und die Lieferzeit mehrere Monate beträgt. Dadurch können Modelabels nicht flexibel auf Trends reagieren und müssen viel Ware auf Lager legen, ohne zu wissen, ob sie diese auch verkaufen werden.
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Auf Pfeffers Onlineplattform ito ito können Designende Strickmodelle anhand von Schablonen entwickeln und innerhalb von drei Wochen produzieren lassen. Sogar Einzelstücke sind möglich. Das gibt ihnen die Freiheit ein Muster zu erstellen und im Onlineshop oder in den sozialen Medien zu testen. Diese ersten Reaktionen von potenziellen Kunden machen es ihnen einfacher, das Lagerrisiko einzuschätzen. So kann ito ito helfen, Überproduktion zu vermeiden. Zusätzlich gibt die Plattform den Designenden recyclefähige Garne vor, die aus verantwortungsvollem Farming kommen.
Die Produktion ist dezentral, das heißt, Pfeffer kooperiert mit einem Netzwerk an Strickereien. Ihre Software bündelt Produktionsaufträge verschiedener Modelabels nach Kriterien wie etwa der Garnstärke. Denn verschiedene Garnstärke erfordern unterschiedliche Maschinen. Durch die Bündelung können höhere Stückzahlen und folglich geringere Preise erreicht werden. Die Umsetzung erfolgt auf Flachstrickmaschinen. 3D-Strickmaschinen würden die Designmöglichkeiten einschränken, die jedoch wichtig sind, um vielen DesignerInnen große kreative Freiheit zu geben. Wobei auch auf Flachstrickmaschinen schon 3D-Gestricke gefertigt werden können. Im Unterschied zu Knit & Wear muss aber noch die eine oder andere Naht manuell erfolgen.

3D-Strick in der konventionellen Modeproduktion
Laut Michael Händel, Vertriebsleiter des Karl Mayer Strickmaschinenbereichs Stoll, sind es eben diese 3D-Strickmaschinen, die besonders interessante Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Das zeigt sich auch in den Anwendungen in der konventionellen Modeproduktion: Das europäische Zentrum für 3D-Flachgestricke ist Italien. Die Produkte, die hier entstehen, sind in den traditionellen Verkaufskanälen längst erhältlich. Besonders beliebt seien die nahtlosen Artikel, die unter der Bezeichnung Knit & Wear laufen, so Händel. Die Modemarken werben mit dem höheren Tragekomfort, da es keine Nähte mehr gibt, die stören könnten. Um die immensen kreativen Möglichkeiten aufzuzeigen, produziert Stoll regelmäßig Trendkollektionen – und laut Website werden manche Designs, 1:1 von Marken übernommen.
Die vollautomatischen Maschinen von Stoll eignen sich aber auch, um technische Textilien für die Segmente Automobil, Sport, Möbel und Medizin herzustellen. In diesen Bereichen bietet 3D-Strick enorme ökonomische, ökologische und technische Vorteile. In diesem Zusammenhang verweist Händel auf Sneakers, bei denen erhebliche Prozesskürzungen möglich sind. Konventionelle Sneakers bestehen aus mehreren aufeinander abgestimmten Teilen, die aneinandergenäht eine dreidimensionale Form ergeben. Stoll kann auf einer seiner Maschinen den kompletten Schuhoberstoff in einem Stück herstellen. Nur die Sohle müsse noch angeklebt werden, so Händel. Produktionsschritte wie Zuschnitt und Nähte fallen weg und der Prozess ist schnell und abfallfrei.
3D-Strick in der Möbel- und Automobilindustrie
Die hohen technischen Anforderungen an die Designenden sind ein Grund, warum 3D-Strick in der Mode noch nicht viel sichtbarer ist. Denn es gibt kaum Kreative, die Strickdesign und -technik verbinden können – und die, die es gibt, neigen dazu die Branche zu wechseln. Eine von ihnen ist die Österreicherin Nina Dorfer, die 2019 ihr eigenes Strickstudio in Paris gründete. Sie hat ihre Ausbildung zwar im Modestudium absolviert, spezialisierte sich später aber auf Textilien für den Innenraum. Hier will sie mit Gestricken neues Terrain erschließen. Eine ihrer Ikonen ist die 3D-getrickte Vase. Gleichzeitig promotet sie umweltfreundliche Garne. Denn Möbelbezüge erfordern eine hohe Abriebfestigkeit, über die in der Regel eher synthetischen Fasern verfügen. Dazu Nina Dorfer: „Recycelte Materialien liegen mittlerweile im Trend und sind schon leichter erhältlich. Noch viel spannender aber wird die neue Welle an biologisch basierten Materialien, wie zum Beispiel Garne aus Algen- oder Pilzstrukturen.“

Der große Vorteil von Strick liegt in der Möglichkeit, jede einzelne Nadel steuern zu können – und dadurch kann man komplexe Funktionen einstricken, erklärt Paul Stollberger aus der Geschäftsführung von Kobleder in St. Martin i. Innkreis, ein Familienunternehmen, das auf technische Gestricke spezialisiert ist. Aktuell ist er an einem Forschungsprojekt beteiligt, in dem Heizdrähte in einen 3D-gestrickten E-Scooter-Sitz eingestrickt werden. Ein anderes Produkt, das bei Kobleder schon serienmäßig hergestellt wird, sind zum Beispiel Innennetze von Feuerwehrhelmen. Diese sollen vor Schlägen auf den Kopf schützen und dazu muss das Gestrick die richtige Spannung haben. Dank 3D-Strick können konzentrische Kreise integriert werden, die Schläge besser vom Körper ableiten und so schwere Verletzungen verhindern.
Auch Kobleder kommt aus der Modeproduktion. Heute spielt der Sektor nur mehr eine kleine Rolle. Das Unternehmen wurde 1927 gegründet, als Coco Chanel die Frauen vom Korsett befreite und Strick und Jersey aus der Sportbekleidung salonfähig machte. Heute, 100 Jahre später, kann man sich 24/7 und von Kopf bis Fuß in Strick kleiden und einengende Kleidung ist endgültig Vergangenheit. Das Strickbild kann so fein sein, dass es sich erst bei näherem Hinsehen offenbart.
Inwieweit das Potenzial der Stricktechnologie zur Rettung unseres Planeten genutzt wird, bleibt abzuwarten. Das Ausloten digitaler Lösungen im B2B-Modus ist ein erster wichtiger Schritt – denn die Mode ist noch unterdigitalisiert. Schwieriger wird es bei den Konsumierenden, die es gewohnt sind, von der Modeindustrie umgarnt zu werden – in Shops, Werbung und Sozialen Medien. Ein eher zweckmäßiger Zugang zum Modekonsum, wie dieser bei on-demand-Systemen gegeben ist, ist noch Sache von Nerds, könnte aber in den nachkommenden, technologie-affinen Generationen zu einer Bewegung werden.
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