Barbara Boll hat einen randvollen Terminkalender. Die BH-Maßschneiderin baut gerade ihr eigenes Atelier auf – parallel zu einer Lehrverpflichtung und Hobbies wie Ikebana. Sie hat lange geforscht, um dem Problem schlecht sitzender BHs auf den Grund zu kommen und geeignete Schnitttechniken entwickelt, die der Vielfalt an Brustformen gerecht werden.
Lücken in Barbara Boll’s Terminkalender müssen erst kreiert werden. Also treffen wir sie spätabends in der Orangerie Kagran, wo sie regelmäßig mit ihrer Ikebana-Gruppe arbeitet. Ihr Tag hat wie immer um fünf Uhr morgens mit der Vorbereitung auf den Ethik- und Musikunterricht in einem Wiener Gymnasium begonnen. Die Fahrzeit in der Schnellbahn hat sie mit der Korrektur von Tests genutzt. Nach dem Unterricht, um etwa 14.30 Uhr startet sie dann in ihren zweiten Beruf: sie nimmt Maß, konstruiert, näht und trifft ihre Kundinnen zur Anprobe.
Dieser Artikel erschien am 04.10.2013 in einem Supplement der Textil Zeitung
Die gebürtige Grazerin Barbara Boll (52) ist promovierte Musikwissenschafterin. Ihre berufliche Karriere hat sie als Ensemble-Mitglied im Serapionstheater gestartet. Später sang sie im ORF-Chor. Nebenberuflich eignete sie sich im Laufe der Jahre noch zwei Magistergrade an – darunter das Studium der Musikpädagogik, das ihr den Zugang zum Lehrberuf ermöglichte. Erst in ihren Vierzigern gab sie den Traum von der Gesangskarriere schweren Herzens auf.
Mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten
Die freigewordene Energie nutzte sie, um sich in die Wissenschaft der BH-Schneiderei zu vertiefen. Sie begann in Bibliotheken zu recherchieren und Büstenhalter zu zerlegen, um die ideale Schnitttechnik zu erforschen. Parallel zum Selbststudium nahm sie Nähunterricht bei Wiener Schneidermeisterinnen. Diese notgedrungen selbstbestimmte Ausbildung machte es nicht gerade einfach, die Gewerbeberechtigung zu erlangen. Aber mit der Unterstützung von Innungsmeisterin Patricia Markus-Fürnkranz wurde es doch möglich. Erst danach entdeckte sie eine Dessous Maßschneiderin in Frankfurt, die noch Schnitte entwickelt. Seither nimmt sie regelmäßig Privatunterricht bei ihr und konnte ihre Schnitttechnik dadurch enorm verbessern.
Industriell gefertigte BH-Körbchen sind lediglich verschieden große Grapefruithälften, aber Brüste können wie Zitronen, Birnen, Äpfel, Mangos, Melonen usw. geformt sein.
Dr. Barbara Boll BH-Maßschneiderin
Start mit Website und Netzwerk
Ein Artikel, den sie auf der Website der Wirtschaftskammer über BH-Maßanfertigung veröffentlichte, brachte Boll erste Presseberichte. Die größte Sichtbarkeit erhält sie aber über die eigene Website. Oft sind es die Ehemänner, die den Begriff BH Maßanfertigung in die Internet Suchmaschine eingegeben, weil sie ihre Frauen von schlecht sitzenden BH’s befreien möchten. Aber auch ein Headhunter aus München hat schon angerufen, um sie für die Designabteilung in einem Wäschekonzern zu rekrutieren. Aber Boll entschied sich für die Selbstständigkeit und die Arbeit im eigenen Atelier – auch wenn sie damals noch keines hatte … Nähmaschine und Arbeitstisch waren im Klavierzimmer untergebracht. Die Meetings mit den Kundinnen – Maßnehmen und Anprobe – fanden in den Ateliers von Kolleginnen aus der Maßschneiderei statt, die sie über die Mitgliedschaft bei der Wirtschaftskammer kennengelernt hatte.
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Das kostete sie zusätzlich Fahrzeit – ist aber schon Vergangenheit, weil sie jetzt einen Raum im Atelier ihrer Berufskollegin Patricia Delzo-de-Edlmayer in der Wiener Innenstadt zur Verfügung hat. Diese war begeistert, als ihr Boll die ersten Maß-BH’s zeigte und von ihren Plänen erzählte; hatte sie doch damit endlich eine Lösung für Messdifferenzen und unschöne Optik, die schlecht sitzende BH’s bei Oberbekleidung verursachen. Ähnlich die Erleichterung bei Boll’s Kundinnen. Sie sehen das Ende von einschneidenden Trägern, zwickenden Bügeln und hochrutschenden Rückenteilen gekommen.
Verortet in der Savile Row
Barbara Boll führt die Passformproblematik bei BH’s auf das restriktive Größenangebot zurück. Sie schätzt, dass die Größen der Industriekollektionen etwa 60% des Marktes abdecken. Wie Boll weiß, konstruiert die Industrie nur für kleine B-Körbchen – meistens 70B – gradiert diese Körbchen und setzt sie auf verschieden lange Unterbrustbänder. Dadurch erhält sie laut EN 13402 durchaus BH’s mit verschiedenen Körbchengrößen, die Körbchen jedoch alle dieselbe breite und flache Form haben. Im Bereich zwischen 75B und 85C funktionieren sie recht gut, aber die weibliche Anatomie weist eine große Variationsbreite bezüglich Umfang, Brustansatz, Abstand und räumlicher Tiefe auf, an der die Industrie vorbeiproduziert.
Barbara Boll betrachtet sich nicht als Teil des Modebetriebs. Sie hat einen sehr technischen Zugang zu ihrem Handwerk und würde sich am ehesten in der Savile Row verorten. Wie bei Herrenbekleidung sind die Formen bei BH’s beschränkt und die Schnitte eine Sache von Komfort und Passform. Auch sei die Anfertigung eines BH’s komplex und mit der eines Sakkos zu vergleichen, so Boll.
Prothesen- und Schwangerschaft-BHs
Fasziniert von dieser Komplexität, stellen sich ihr immer wieder neue Aufgaben. So möchte sie sich noch Expertise in der Anfertigung von Prothesen BH’s und Schwangerschafts-BH’s erarbeiten. Das höchste Ziel sieht sie in der Beherrschung der Schnitttechnik von nichtelastischen Schnürcorsagen.
Aktuell eignet sie sich die Herstellungstechnik von Herrenunterhosen an – und ist gespannt, ob dieses Angebot von einer Frau in der Männerwelt angenommen werden wird.
Für die Entwicklung und Vertiefung ihrer Fähigkeiten nimmt sie sich Zeit. Zitat: „Bis zur Pensionierung im Lehrberuf möchte ich ein gut gehendes Atelier haben.“
Hildegard Suntinger
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