Die AFA Awards 2024 gingen an zwei Modedesignende, die ihre Ausbildung in London gemacht haben – und in Wien arbeiten: Martin Niklas Wieser und Christina Seewald. Beide setzen sich in ihren Arbeiten über gender-spezifische Grenzen hinweg und reagieren mit individuellen Produktionskonzepten auf die Nachhaltigkeitskrise in der Modeindustrie. Letzteres, indem sie z.B. Deadstock verwenden und auf langlebige Kleidungsstücke setzen.
Die Währung der Modeindustrie ist Kreativität – und Wiens Modedesign-Szene hat viele Rohdiamanten. Für sie ist es relativ leicht, mit spektakulären Fotos in den Sozialen Medien Likes zu bekommen. Der Weg in den Markt ist aber mit Kreativität allein nicht zu meistern – und bedeutet eine enorm große Hürde. In der Luxusmode sind hochwertige Materialien gefragt – und das immer wieder Neues, das doch perfekt funktionieren muss. Dazu braucht es Geld, Geschwindigkeit und exzellente handwerkliche Skills.
Die AFA (Austrian Fashion Association) und ihre Awards, die mit einem Preisgeld von 10.000 Euro ausgeschrieben sind, sollen den Markteinstieg erleichtern. Mehr als das, bietet die alljährliche Preisverleihung einen Einblick in das Schaffen des ambitionierten österreichischen Nachwuchses: In der Show werden nicht nur die Arbeiten der Gewinner*Innen gezeigt, sondern auch jener Modedesignenden, die im laufenden Jahr Support- oder Start-Stipendien erhielten.
Auf kreativer Ebene setzt sich der Modenachwuchs mit sozialen und psychologischen Themen auseinander – und realisiert diese in Designs und Foto-Kampagnen. Ob Mode komplexe Aussagen treffen kann, ist eine Frage, die auf wissenschaftlicher Ebene diskutiert wird. Modeobjekte können nicht direkt mit Bedeutungseinheiten in Wörter übersetzt werden. Einfacher wird es mit Bildern, weshalb synergetische Kollaborationen mit Foto- und Videokünstlern eine gängige Praxis sind.
Die Kollektionen der Modedesignenden sind noch klein – weil große Kollektionen hohe Investitionen erfordern. Weshalb viele im Sinne der Nachhaltigkeit dazu übergehen, zeitlose Stücke zu schaffen, die weiterentwickelt und saisonal angepasst werden. Eine Strategie, die nebenbei auch zur erwünschten Entschleunigung führt. Das schließt auffallendere Designs nicht aus – Designs, die narrativen Charakter haben – und den Wow-Effekt ausmachen. Gleichzeitig erhält die kritische Auseinandersetzung mit Mode im Kunstsektor zunehmend Aufmerksamkeit. Beispiel dafür sind die Arbeiten von Karolin Braegger, die sich mit Kleidung als identitätsstiftender Hülle beschäftigt (siehe unten).
Mode als Kommunikations-Medium
Den Modepreis der Stadt Wien 2024 erhielt Martin Niklas Wieser, der seine Modeausbildung an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und am Royal College of Art London machte. Er gründete sein Label 2022 und arbeitet nebenbei als Dozent im Lehrgang Fashion & Technology an der Kunstuniversität Linz. Martin Niklas sieht Mode als kommunikatives Medium und in seinem gleichnamigen Label die Chance, sich in den Diskurs einzubringen. Eines seiner zentralen Themen ist der mitunter aggressive Einfluss, den Technologie auf Mode ausübt – und sei es in Form von Internet und Sozialen Medien. In seinen Kampagnen bricht er mit den Sehgewohnheiten und stellt gesellschaftliche Konventionen in Frage. Ein Konzept, das er auch in seinen künstlerisch inszenierten Foto-Kampagnen realisiert. In der aktuellen Kollektion verfolgt er eine formelle Linie mit Anzügen oder Teilen von Anzügen. Hautnahe Leggings und weite Bundfaltenhosen – es ist ein Spiel mit Volumina und Proportionen. Die Modelle sind vorwiegend aus Deadstock und werden in kleinen Familienbetrieben in Italien gefertigt. Neben der Verwendung von Stoffen aus Produktionsüberschüssen, liegt ein wesentlicher Nachhaltigkeitsfaktor in der Kreation langlebiger Stücke.

Designer: Martin Niklas Wieser (c) Thomas Lerch
Mehr über Martin Niklas Wieser: Warum nicht?
Fragilität und Selbstbestimmung
Den Outstanding Artist Award des BMKOES (Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport) erhielt Christina Seewald. Sie hat am Central Saint Martins College of Art and Design in London den Bachelor in Textildesign/Strickware gemacht und den Master in Strickware bei Fabio Piras. Dass sie sich nicht für Textildesign entschied, sondern für Strickware liegt daran, dass Strick im Vergleich zu Textildesign noch mehr ungehobenes kreatives Potenzial bietet. Gleich nach dem Master im Sommer 2019 gründete sie ihr gleichnamiges Label. Die Modedesignerin schaffte es schon in ihren ersten Kollektionen, ikonische Looks zu kreieren – zarten Strick im Wäschestil mit falsch und/oder improvisiert wirkenden Verarbeitungsdetails. Christina bezieht sich auf Themen, die gesellschaftspolitisch relevant sind, insbesondere im Leben von FLINTA*. Zugrunde liegt das Konzept der Symbiose von Fragilität und Selbstbestimmung. In der aktuellen Kollektion zieht sie z.B. Netze über opake körpernahe Teile wie Unterhemden und überlange Strickhosen. Als Strickdesignerin arbeitet sie insofern nachhaltig, als beim Stricken nicht mehr Material produziert wird, als notwendig. Im Unterschied zu gewebten Stoffen, bei denen im Zuschnitt viel Abfall entsteht.
FLINTA* ist eine deutsche Abkürzung, die für „Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen“ steht. Das Sternchen steht für alle nicht-binären Geschlechtsidentitäten.

Mehr über Christina Seewald: Gesellschaftliche Geschlechter-Stereotypen
Luxus x Youth Culture
Einige der Modedesignenden, die 2024 eine Unterstützung erhielten, leben im Ausland. So etwa Christoph Rumpf, der an der Universität für Angewandte Kunst Modedesign studierte und sich in Paris niedergelassen hat. Sein Debut gab er 2020 mit majestätischen Looks, die er aus Deadstock und Fundstücken vom Flohmarkt kreierte – darunter auch ein Perserteppich. Thema seiner Arbeit sind Gender Issues, bzw. die Aufarbeitung von daraus entstehenden Traumata. Wobei ihm wichtig ist, dass die daraus resultierenden Kleidungsstücke leicht verständlich sind. Kleidungsstücke für Männer, die aber auch von Frauen getragen werden können. Der Modedesigner setzt auf edle Materialien, die er nach wie vor mit opulenten Fundstücken im Stil alter Kulturen kombiniert. Die luxuriösen Stoffe stehen im Spannungsfeld zu Stilzitaten aus der Jugendkultur – oft in Form von Prints.

Spaß und Eskapismus
Florentina Leitner hat ihre Ausbildung im Fashion Department der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen gemacht – und nach dem Master ein Jahr im Design Department von Dries van Noten gearbeitet. 2021 gründete sie ihr eigenes gleichnamiges Label in Antwerpen. Florentina war in ihrer Ausbildungszeit sehr überschwänglich und schuf fantasievolle Kreationen, die auch schon an Celebrities wie Lady Gaga, Charli XCX und Kylie Jenner zu sehen waren. Seit sie sich auf kommerziellem Terrain bewegt, setzt sie ihre Ideen fokussierter ein, um neben den Couture-Pieces auch unkomplizierte Alltagskleider zu entwickeln. Geblieben ist die Kindlichkeit, das Mädchenhafte, das sich u.a. in Blumenmotiven, verspielten Details und Mary Jane-Schuhen zeigt. Gegenüber dem Medium 1Granary sagte Florentina: “We still need clothes; people still want to look pretty, I want to be able to help people escape the harsh times that we are currently facing.”

We still need clothes; people still want to look pretty, I want to be able to help people escape the harsh times that we are currently facing.
Starke Silhouetten
Jennifer Milleder hat an der Universität für Angewandte Kunst Modedesign studiert und ein betont künstlerisches Designkonzept: Sie kreiert Charaktere und erzählt Geschichten – wie etwa jene von Alice in Wonderland. Mit einer erwachsenen Alice, die stark ist, aber immer noch gern träumt. Das schafft Raum für Eskapismus. Zitat: „Mode ist für mich auch ein Gefühl, das ich in emotionalen und zugleich surrealen Kreationen vermitteln will. Ich will Charaktere erschaffen, über die man sich neu definieren kann und eine Welt, die man sich aneignen kann.“ Jennifer kreiert noch nie dagewesene Silhouetten. Sie setzt sich über Materialkonventionen hinweg und entwickelt raffinierte Schnittkonstruktionen, die softe und flexible Skulpturen entstehen lassen. Bis jetzt sind es noch ausschließlich Art Pieces, Modelle für die Bühne. Längerfristig will sie ihre Ideen auch in Ready-to-wear umsetzen.

Mode ist für mich auch ein Gefühl, das ich in emotionalen und zugleich surrealen Kreationen vermitteln will. Ich will Charaktere erschaffen, über die man sich neu definieren kann und eine Welt, die man sich aneignen kann.
Mehr über Jennifer Milleder: Kleidungsstücke, die eine Botschaft vermitteln und doch tragbar sind
Kopie und Original
Karolin Braegger lebt in Zürich und Wien. In Wien hat sie Bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste und Modedesign an der Universität für Angewandte Kunst studiert. Sie positioniert sich zwischen Bildender Kunst, Mode und Performance – und untersucht Kleidung als identitätsstiftende Hülle, mit der Menschen einander ansprechen und kommunizieren. Braegger nahm bereits an mehreren Ausstellungen im deutschsprachigen Raum, sowie Paris und Zagreb teil. Zu den AFA Awards wurden Teile aus ihrer Diplom-Kollektion ‚The Dernier Cri‘ gezeigt, in der sie sich mit der Demokratisierung von Mode auseinandersetzte. Dazu recherchierte sie die Geschichte des Kopierens als kulturelle Praxis und untersuchte Original und Kopie im Hinblick auf deren Wert und Vergänglichkeit.

Freiheit des Selbstausdrucks
Auch Larissa Falk hat ihr Diplom in Modedesign an der Universität für Angewandte Kunst in Wien gemacht. Das war 2021. Ihre Diplom-Kollektion war eine Anspielung auf den Male Gaze und lief unter dem Titel Alienation. Die Aussage lag in den gekonnten Schnittkonstruktionen, die mit den gelernten weiblichen Körperbildern brachen. Experimentell sind nicht nur ihre Silhouetten, sondern auch ihre Materialien. Die Modedesignerin arbeitet u.a. mit Vinyl und Haaren. Auf ihrem Instagram Account schreibt sie: „Meine Entwürfe stellen die restriktiven Normen der Körperdarstellung in Frage und zelebrieren die Vielfalt der Formen, der Freiheit und des Selbstausdrucks, so dass die Trägerinnen und Träger Raum und Identität zu ihren Bedingungen zurückgewinnen können.“ Larissa Falk lebt in New York, wo sie für die deutsche Modedesignerin Melitta Baumann arbeitet – und parallel dazu ihr eigenes Label aufbaut.

Meine Entwürfe stellen die restriktiven Normen der Körperdarstellung in Frage und zelebrieren die Vielfalt der Formen, der Freiheit und des Selbstausdrucks, so dass die Trägerinnen und Träger Raum und Identität zu ihren Bedingungen zurückgewinnen können.
Upcycling
Vanessa Schreiner studierte zwei Jahre an der Akademie der Bildenden Künste und wechselte dann in die Modeklasse der Universität für Angewandte Kunst. Sie machte ihr Diplom 2021 und erstellte eine nachhaltige Kollektion, in der sie Produkten, die keine Verwendung mehr finden, ein zweites Leben gab. Wobei sie nicht irgendein Material einsetzte, sondern Regenschirme. Neben dem Stoff verwertete sie auch den Griff – wenn sich dieser zum Schmuckstück eignete. Die Kollektion erschien unter dem Titel „No Rain no Flowers“ und brachte ihr den Green Concept Award 2022 ein. Während dem Studium absolvierte Vanessa u.a. ein Praktikum bei Vetements in Zürich. Nach dem Studium arbeitete sie 1 ½ Jahre in der Designabteilung von Bottega Veneta in Mailand.

Contemporary knitwear
Neva Özcü hat in ihrer türkischen Heimat ein technisches Studium absolviert und dann zehn Jahre in Konzernen gearbeitet. Als sie zu ihrem Freund nach Wien übersiedeln wollte, nutzte sie die Zeit der Jobsuche mit Stricken. Etwas, das sie eigentlich nicht mochte, weil sie Gestricktes allgemein zu traditionell fand. Damit wollte sie ändern und dachte: „Let’s bring fun into it“. Durch ihren technischen Hintergrund erarbeitete sie sich die handwerklichen Skills mit dem Lesen von Strickanleitungen und dem Erstellen von ganz vielen Mustern. Inspiration fand und findet sie in Sci-Fi-Filmen und der sozialpolitischen Lage. Wobei das Resultat immer farbenfroh und optimistisch ist. Mittlerweile verkauft sie ihre in Istanbul – teils handgestrickten- Kreationen u.a. über den eigenen Online-Shop. Der Labelname Not Yet FYI erinnert an ihre Corporate-Zeit und entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Selbstreferenziell
Nikola Markovic verfolgt einen selbstreferenziellen Ansatz. Absolvent der Modeklasse der Universität für Angewandte Kunst, setzte er sich in seiner Diplomkollektion To Be a Dragon mit dem transgenerationalen Trauma, dem Tod und der Symbolik von Kleidung auseinander. Seine Vision – eine Brücke zu einer sensibleren Beziehung zur objektiven Welt zu schaffen. Seine Großeltern hatten eine Schneiderei und Markovic nutzte noch vorhandene Stoffreste. U.a. entstand ein Hemd das nicht mit Nähseide, sondern mit einer Anglerleine genäht wurde – Symbol für seinen Großvater, der beim Angeln Suizid beging. In seinen aktuellen Arbeiten experimentiert er mit künstlichen Materialien und Silhouetten. Die Kollektion erscheint unter dem Namen НИКО.

Nachhaltiger Schmuck
Lea Köhn hat Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert und 2020 ihr eigenes Schmucklabel Mussels and Muscles in Wien gegründet. Ihre Designs stehen im Spannungsfeld von Kunst und Design und strahlen eine minimalistische Eleganz aus. Sie verwendet recycelte und nachhaltig gesourcte Metalle wie Sterlingsilber und Gold. Andere Rohstoffe wie Edelsteine und Perlen werden bewusst in Antiquitätenläden eingekauft oder aus nicht mehr getragenen Schmuckstücken entnommen. Jedes Stück ist handgefertigt und wird vor Ort hergestellt.
Provokation
David Brunnbauer hat seinen Bachelor in Modedesign an der Central Saint Martins University of the Arts in London gemacht. Schwerpunkt: Print! Im Anschluss daran machte er noch ein Diplom in Footwear Pattern Making & Prototyping an der Arsutoria School in Mailand. Seine Praktika absolvierte er bei Viktor und Rolf in Amsterdam und bei Acne Studios in Paris. Seit 2019 arbeitet er bei Adidas Future & Kram AB Collaborations in London, Lissabon und Stockholm. In seiner eigenen Kollektion setzt er alle Stilmittel ein – Farbe, Dessin, Struktur und Proportionen – und scheut auch nicht die Provokation: Highlight bei den AFA Awards waren Leggings, die nur knapp den Schritt bedeckten und so den Slip freilegten.

Fenster zum Norden
Anastasiia Shpagina hat ein Faible für technische Kleidung. Schon ihre Diplom-Kollektion bestand aus aufwändig konstruierten Jacken und Mänteln. War diese sehr experimentell, so sind ihre kühnen Ideen mittlerweile ready-to-wear. Shpagina hat zwei Master in Modedesign absolviert: einen an der Saint Petersburg State Art-Industrial Academy und einen an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Erste Berufserfahrungen sammelte sie als Praktikantin bei Hussein Chalayan in London.

Zehn Jahre AFA Awards: Die Gewinner seit 2014
Modepreis der Stadt Wien:
2024: Martin Niklas Wieser
2023: Christoph Rumpf / Paris
2022: Matthias Winkler / Berlin
2021: Jojo Gronostay / Paris
2020: Christina Seewald / Wien
2019: Kenneth Ize / Paris
2018: Jana Wieland / Wien
2017: Markus Wernitznig / Paris
2016: Flora Miranda / Antwerpen
2015: Marina Hoermanseder / Berlin
2014: Rani Bageria / Wien
Outstanding Artist Award für experimentelles Modedesign:
2024: Christina Seewald
2023: Rosa Mosa / Wien
2022: Wiener Traditionsmanufaktur Mühlbauer / Wien
2021: Petar Petrov / Wien
2020: Susanne Bisovsky / Wien
2019: House of the Very Islands / Wien
2018: Arthur Arbesser / Mailand
2017: Wendy & Jim / Wien
2016: Marie Oberkönig / Berlin
2015: Jackie W. Lee / Berlin
2014: Inga Nemirovskaia / Österreich
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