Die industrielle Schuhproduktion ist aufwändig: Ein Schuh kann bis zu 120 Materialien und Substanzen sowie 60 Arbeitsgänge erfordern. Eine Materialvielfalt, die Recycling schier unmöglich macht. Die österreichische Designerin Sophia Guggenberger macht Schuhe aus vier biobasierten Komponenten, die teilweise regional gesourct werden können. die Modelle können repariert und nach Gebrauch umweltfreundlich entsorgt werden. Das Design ist zeitgenössisch, cool und längerwährend.
Foto oben: Mules aus der ersten tragbaren Kollektion !OJO! von Sophia Guggenberger (c) Johanna Magdalena Guggenberger
„Ich habe Schuhe nie als in sich geschlossene Objekte gesehen, die es einfach zu reproduzieren gilt“, sagt Sophia Guggenberger. „Wesentlich interessanter fand ich es, Schuhe neu zu denken und mit Materialien, Techniken und Werkzeugen zu experimentieren.“ Dass ihre künstlerischen Projekte doch zu einer tragbaren Schuhkollektion führten, war nicht selbstverständlich. Aber kürzlich war es soweit: Sophia Guggenberger präsentierte !OJO! – ihre erste Kollektion.
Die Präsentation erfolgte anlässlich der Klimabiennale in Wien im AFA Space, (AFA steht für Austrian Fashion Association). Die Modelle stehen auf Podesten aus hellem Holz – Fußformen, mit der Stichsäge aus Brettern zugeschnitten. Von Sophia selbst. Die Schuhe sind flach und haben artisanalen Charakter. Neben Modellen mit verschiedenen Schnürsystemen gibt es auch zwei Typen von Mules.
Dieser Artikel könnte Sie auch interessieren: Kann Echtzeitmode auch nachhaltig sein?
Das Design der Schuhe ist von der Konstruktion geleitet – und durch die Materialien und Techniken definiert. Die Materialien variieren – neben vegetabil gegerbtem und mit natürlichen Farbstoffen gefärbtem Leder nutzt sie auch textile Geflechte und Gewebe aus Hanf. Fast alle Materialien sind biobasiert und die Modelle reparierbar. Nach Gebrauch können sie in die einzelnen Komponenten zerlegt und auf geeignete Weise entsorgt werden.
Nachhaltige Techniken entwickeln
Nachhaltigkeit sei ihr immer schon wichtig gewesen. Das liege u.a. an der Sozialisation in der universitären Ausbildung – aber auch an ihrer persönlichen Überzeugung. „Ich bin im Aufstieg der Fast-Fashion aufgewachsen, habe das auch alles mitgemacht, aber irgendwann begonnen, das System in Frage zu stellen“, sagt sie. Als sie selbst zu designen begann, waren nachhaltige Techniken das, was sie am meisten interessiert hat und ihr auch den spielerischen Zugang zu Design erlaubten.

Sophia Guggenberger oszilliert zwischen Kunst, Wissenschaft und Design. Einendes Moment ist das Handwerk, das ihr ermöglicht, Konventionen in Frage zu stellen und neue Materialien, Techniken und Formen zu untersuchen.
Die Schuhe kommen in ihrem näheren Umfeld gut an. Sie hat schon eine Liste an Bestellungen. Aber die Interessenten und Interessentinnen müssen sich gedulden. Im Moment näht sie die Schuhe noch selbst. 1 bis 1 1½ Tage braucht sie für ein Paar. Von der Marktfähigkeit trennt sie ein Pilotprojekt, in dem sie die Konstruktion der Prototypen an die Anforderungen in der seriellen Produktion anpassen will.
Wien – London – Mallorca
Die Kollektion ist das Resultat einer vielschichtigen Ausbildung und Forschungsarbeit im Rahmen von Förderprogrammen. Nach der Matura begann Sophia Guggenberger 2007 ein Kolleg für Mode an der Höheren Lehranstalt für Mode und Bekleidungstechnik Michelbeuern in Wien. Es folgten ein Bachelor in Cordwainers Footwear: Product Design and Development am London College of Fashion und erste Berufserfahrungen in der Designabteilung des spanischen Schuhherstellers Camper. Ein globales Unternehmen in Mallorca, über das schon das Greenpeace Magazin (Ausgabe 05.1) berichtet hat. Anlass war die Präsentation des Schuhs Wabi, der mit nur neun Elementen und Arbeitsschritten auskommt und recycelbar ist. Im Vergleich dazu können herkömmlich produzierte Schuhe aus etwa 120 Materialien und Substanzen sowie 60 Arbeitsgängen bestehen. Die Materialvielfalt macht ein Recycling schier unmöglich.
Schuhe anders und einfacher machen
Aber Sophia Guggenberger mochte das System der saisonal designten und produzierten Massenprodukte und die damit einhergehenden Standards nicht besonders und wollte es nicht reproduzieren. So durfte es etwa keine abstehenden Teile an den Schuhen geben – eine Regel, die sie bezweifelte. Nach zwei Jahren war ihr nach einer neuen Sichtweise auf die Schuhproduktion und sie übersiedelte nach Berlin, wo sie an der Universität der Künste (UDK) einen Master-Lehrgang in Design belegte. Das Jahrgangsthema lautete Transfect Design Systems. Sie nutzte das Studium, um zu forschen, wie man Schuhe anders und einfacher machen kann – experimentierte mit neuen Werkzeugen und Handwerkstechniken und konnte so ganz eigene Methoden entwickeln. Resultat war eine minimale Schuhkonstruktion: Ein Schuh aus vier Komponenten, der ohne Kleber auskommt, reparierbar ist und am Ende seines Lebenszyklus recyclingfähig ist. Der Verzicht auf Kleber ist insofern wichtig, als diese aus Kunststoff und oft toxisch sind. Darüber hinaus sind geklebte Teile nach Gebrauch nicht so leicht trennbar und dadurch das Recycling erschwert.

Erste künstlerische Projekte
Nach ihrer Graduierung arbeitete sie als freie Designerin. Die Teilnahme an einer Reihe von Förderprogrammen ermöglichte ihr, den künstlerischen Ansatz weiter zu verfolgen. Ab 2013 arbeitete sie in mehreren Projekten mit Eugenia Morpurgo zusammen, die sie schon in einem Workshop bei Camper kennengelernt hatte. Eugenia hatte unter Jan Boelen an der Design Academy in Eindhoven Social Design studiert. In ihrer Masterarbeit hatte sie sich mit Schuhdesign in Zusammenhang mit individueller digitaler Fertigung on-demand sowie mit Reparatur als Form der Wiederaneignung unserer materiellen Welt beschäftigt. Ein erstes Kollaborationsprojekt war Don’t Run Beta, in dem Sophia ein Schuhoberteil entwickelte, das ohne Maschinennähte auskommt und sich durch eine spezielle Falttechnik formte. In einer gemeinsamen Residency in Belgien arbeiteten sie an dem Projekt Another Shoe. Forschungsziel war die Entwicklung eines Selbstbau-Kit für einen Schuh. Ein Schuh, der im Fab Lab gefertigt werden kann – mit Komponenten, die im Handel erhältlich sind.



Projekt Another Shoe (Eugenia Morpurgo x Sophia Guggenberger) (c) Federico Floriani

Polykulturelles Feld
2019 wurde Sophia Guggenberger in ein internationales Artist-in-Residence Programm der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart aufgenommen. Zehn Monate, in denen sie eine mobile Schuhwerkstatt in Form eines Rucksacks entwickelte. In der Pandemie kehrte sie nach Österreich zurück. Ihre Kooperationspartnerin Eugenia arbeitete gerade am Projekt Syntropic Materials, für das sie an einem Archiv von Pflanzen und Materialien forschte. Die syntropische Landwirtschaft steht für die Wiederherstellung von Ökosystemen in sehr kurzer Zeit und durch Menschenhand.
Eugenia wollte eine Datenbank errichten, in der sie sich an korrespondierenden Klimazonen orientierte und nachwachsende Rohstoffe für Materialien nach Klimazonen sortieren kann. Ziel war es eine Grundlage für das lokale Sourcing von pflanzlichen Materialien zu schaffen. Sophias Aufgabe war es zunächst, Schuhe aus diesen lokalen pflanzlichen Rohstoffen zu entwickeln.
2021 wurden sie mit diesem Projekt in das EU-Förderprogramm Re-Fream in Linz aufgenommen. Das gab ihnen die Möglichkeit, gemeinsam alle Aspekte des Projekts auszuarbeiten. Sie recherchierten Eigenschaften von Schuhen aus korrespondierenden Biomaterialien und Pflanzen und erforschten – gemeinsam mit einem spanischen Agronomen – ein theoretisches polykulturelles Feld. Auf diesem Feld sollten alle Materialien wachsen, die man für einen spezifischen Schuh benötigt.

Der Milpa Zyklus
Vorbild für das Feld war unter anderem der Milpa Zyklus – eine Form alternativer Landwirtschaft, die ihre Wurzeln in den Kulturpraktiken indigener Völker hat. Der Milpa Zyklus stammt von den Maya und ermöglicht südamerikanischen Völkern bis heute eine nachhaltige Bewirtschaftung ihrer Felder. Der Zyklus erstreckt sich über etwa 20 Jahre und beinhaltet die gezielte Auswahl von Pflanzenarten, die den Artenreichtum fördern.
Diese Artikel könnte Sie auch interessieren: Modeindustrie, Quo Vadis
Auf dem in Re-Fream entwickelten polykulturellen Feld gab es neben Hanf, Brennnesseln und Sisal auch Mais – als regenerativen Rohstoff für Polylactide (PLA) die im 3D-Druck als Filament genutzt werden. Um möglichst wenig PLA nutzen zu müssen und das Filament flexibler zu gestalten, wurde gemeinsam mit dem Linzer Technologie-Unternehmen Wood K-Plus ein 3D-gedrucktes Filament mit einem Kern aus Baumwolle entwickelt. Für den Prototyp konnte das Filament noch nicht verwendet werden, weil es vollkommen neue Anforderungen an die 3D-Druck-Technik stellt. Bis dato werden Filamente im 3D-Druck in geschmolzener Form gedruckt.



Materialtests aus dem Re-Fream Projekt SYNTROPIA von Eugenia Morpurgo x Sophia Guggenberger (c) Elisabeth Handl
Bioregionales Design
Auf Re-Fream folgte eine Kollaboration im Rahmen von Atelier LUMA, das Design-Forschungsprogramm der Art Foundation LUMA in Arles, das 2016 von Jan Boelen und Henriette Waal gegründet wurde. Arles liegt in der Camargue, einem Feuchtgebiet. Feuchtgebiete haben eine hohe Bedeutung für Ökologie, Klimaschutz und Hochwasserschutz und sind deshalb schützenswert. Atelier Luma verfolgt die Idee eines bioregionalen Designs – ein Design, in dem nicht genutzte lokale Rohstoffe und/oder Abfallströme so genutzt werden, dass sie gleichzeitig das lokale Öko- und Sozialsystem stärken. Die Rückbesinnung auf lokale Rohstoffe geht einher mit der Neuentdeckung vergangener Handwerkstechniken, die lokal gesourct werden können. Der Designer wird zum Feldforscher.
Dieser Artikel könnte Sie auch interessieren: Neue Wege entstehen indem man sie geht
Inspiriert von Sandalen aus Fasern, die in die Zeit der ägyptischen Pharaonen datieren, rief Atelier Luma 2021/22 das Projekt Footprint ins Leben. Sophia Guggenberger war eingeladen, bioregionale Schuhe zu entwickeln. Darüber hinaus sollten diese auch anderswo im Mittelmeerraum nachgebaut werden können. Weshalb Materialien und Techniken aus Feuchtgebieten dieser Regionen zu wählen waren. Die Schuhe wurden gestrickt und gewebt und bestanden aus Wolle, Hanf und Naturkautschuk. In der Herstellung kooperierte Sophia mit zwei in der Camargue ansässigen Herstellern: Der Schuhwerkstatt La Botte Gardiane sowie der Strickerei Les Trois Tricoteurs. Schließlich gehe es „nicht nur darum, ein neues Produktionssystem zu installieren, sondern auch die lokalen Kulturen einzubeziehen und mit ihnen Prototypen zu entwickeln, anstatt sie zu umgehen“, sagte Henriette Waal in einem Interview gegenüber dem Züricher Online-Magazin Designboom.
Die Dinge zusammenfügen
In Österreich erhielt Sophia Guggenberger zuletzt das START-Stipendium für Design vom BMKOES und AFA-Support. In beide Programme flossen ihre Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre ein. Sie entwickelte theoretische Kollektionen aus Biomaterialien, die ohne Kleben hergestellt werden können und die am Ende ihres Lebenszyklus in die einzelnen Komponenten zerlegbar sind. Forschungsziel war es, die Möglichkeiten einer lokalen Produktion unter Nutzung lokaler Materialien und Fertigungstechniken auszuloten. Wobei dies nicht unbedingt Fertigungstechniken aus der traditionellen Schuhproduktion sein müssen. Z.B. können Geflechte auch in Zusammenarbeit mit lokalen Flechtbetrieben produziert werden. „Es ging darum, lokale technische Kompetenzen zu eruieren und zu sehen, wie sich die Dinge zusammenfügen“, erklärt Sophia.


Materialtest aus dem Projekt START by Sophia Guggenberger (c) Courtesy of the artist
Nachhaltig gefertigtes Leder
Diesen bioregionalen Ansatz möchte die Designerin in der eigenen Kollektion beibehalten. Um die lokalen Ressourcen zu nutzen und die Materialien in der Kollektion divers zu halten. Hauptmaterial ist jedoch vegetabil gegerbtes Leder mit IVN-Zertifikat – vom deutschen Spezialisten Ecopell. „Wenn wir weiter Fleisch essen, müssen wir auch die Häute weiter nutzen“, sagt sie. Zudem sei veganer Lederersatz – wie etwa Mais – mitunter problematisch, weil biobasierte Kunststoffe auf agrarischen Böden angebaut werden, die dringend für die Nahrungsmittelproduktion gebraucht werden. Auch kommen diese Pflanzen oft aus Monokulturen, was zur Ausbeutung der Böden führt. „Das sind komplexe Sachverhalte, die schwer zu entscheiden sind“, so die Designerin.
Für nachhaltig gefertigtes Leder hat sie sich entschieden, weil es gegenwärtig schon verfügbar ist. Auch gebe es interessante Projekte, in denen man versuche, lokale Infrastrukturen für die Herstellung von bioregionalem Leder zu schaffen. Darüber hinaus beginne man Häute zu nutzen, die bisher einfach entsorgt wurden, wie zum Beispiel Wildleder. Das sind ungenutzte Rohstoffe, die sie zukünftig auch in die Produktion aufnehmen möchte.
Lokales Produktionssystem
Die Sohlen sind aus Naturkautschuk, der selbstklebend ist, wenn man ihn anschleift. Jedoch seien biobasierte Sohlenmaterialien schwer zu finden. Zitat: „Der Naturkautschuk, den ich verwende, wird großteils in Südostasien angebaut – und die Produktion ist oft mit ökologischen und sozialen Missständen verbunden. In seiner selbstklebenden Art bietet er aber interessante Verarbeitungsmöglichkeiten. Hier versucht die EU bereits Systeme zu schaffen, die die Lieferkette transparent machen und sicherstellen, dass die Produkte in Südostasien nachhaltig hergestellt werden.“
Im nächsten Projekt wird sie ein weitgehend lokales Produktionssystem entwickeln. Die Schuhe können von Hand oder auch mit existierenden Industriemaschinen gefertigt werden. „Was sollen wir sonst mit den Maschinen machen, die wir schon haben“, fragt sie. Für die industrielle Fertigung braucht es noch geringfügige Anpassungen.

Originäres Design
Wenn Sophia Guggenberger von einer ersten tragbaren Kollektion spricht, dann bedeutet das nicht, dass sie sich den impliziten Regeln des Marktes nun doch untergeordnet hat. Ihr zentrales Gestaltungselement ist die Konstruktion – d.h., die Materialien erfordern gewisse Techniken und bestimmen so die Optionen im Design. Gleichzeitig ist die Ästhetik ihrer Schuhe nicht so glatt, wie jene in der herkömmlichen industriellen Produktion – und es gibt auch abstehende Teile … Der Designerin ist klar, dass sie ihr Mindset jetzt von der künstlerischen in die wirtschaftliche Sphäre verschieben muss – und dazu ist sie auch bereit.

Die Fotos für den Katalog hat Sophias Schwester Johanna Magdalena Guggenberger gemacht, die Künstlerin ist.
Hildegard Suntinger
