Mode für ältere Menschen – das Thema ist so sensibel, dass noch nicht einmal ein Name für die Zielgruppe gefunden wurde. Denn Sechzigjährige fühlen sich wie 45 und die Modeindustrie möge sich vor einer spezifischen Ansprache hüten, so die Marketer. Aber zwei junge Menschen wagen es jetzt doch: Eine französische Modedesignerin und ein amerikanischer Modeblogger promoten Elderly Fashion mit Coolness und einem Augenzwinkern.
Erschienen in Textil Zeitung Ausgabe 19/2012, 4. Oktober
Der Amerikaner Ari Seth Cohen (32) startete seinen Blog Advanced Style – Older and Wiser im Jahr 2008. Mit dem Blog-Titel verleiht er der Zielgruppe Coolness – und cool sind auch die zeitlosen Stil-Ikonen, die er darauf featured, wie etwa die 90-jährige Designerin Iris Apfel oder die ebenfalls 90-jährige Künstlerin Ilona Royce Smithskin. Er spürt die Protagonist*innen seines Blogs in den Straßen von New York auf – und interessiert sich bewusst für die Ältesten, »die niemanden mehr beeindrucken müssen und anziehen was sie wollen«, so Ari Seth Cohen.

Teenager-Alluren
Geht es nach Iris Apfel, dann bringt der Lebensabschnitt nach der Pensionierung eine zweite Adoleszenz. Die Interieur-Designerin bezeichnet sich selbst als der älteste Teenager der Welt. Dementsprechend auch ihr Modeverhalten: Sie trägt enge Jeans und eulenartig runde, dick gerahmte Brillen. Ihre Lieblingsstücke findet sie weniger in den Kollektionen der Designer, als in Second-Hand Boutiquen. 2005 war sie die erste Privatperson, deren Stil in einer Ausstellung im Metropolitan Museum präsentiert wurde.
Aber anders als bei den Teenies spielen Marken bei den selbstbewussten Stil-Ikonen auf Ari Seth Cohen’s Blog eine untergeordnete Rolle. Sie hinterfragen ihr Verhältnis zu Mode kritisch und möchten auf keinen Fall als fashion-victim, oberflächlich oder eitel gelten. Was die Begeisterung für Mode schließlich rechtfertige, sei ihre positive psychologische Wirkung. Man fühle sich spürbar besser, wenn man gut gekleidet sei, so die Stil-Ikone Marian in einem Beitrag auf Advanced Style. Außerdem erhalte sie viel positives Feedback aus ihrer Alterskohorte. Frauen, die ihre Looks bewundern und sagen: »Sie geben mir die Erlaubnis mich wieder gut zu kleiden.« Ein modischer Kleidungsstil im gehobenen Alter scheint also immer noch ein Tabubruch zu sein. Setzt man diese Altersklasse doch nach wie vor mit beigen und dunkelblauen Kostümen und Cardigans gleich, die sie quasi unsichtbar machen. Aus dieser Rolle zu fallen, braucht Mut.

Unübersehbar
„Youth comes with age“ soll auch schon der französische Schauspieler und Maler Jean Cocteau (1889-1963) gesagt haben. Ein Zitat, auf das sich die 27-Jährige Modedesignerin Fanny Karst bezieht, die 2009 ihr Label The Old Ladies Rebellion gründete. Mode scheint in der Familie zu liegen. Sie ist die Nichte von Jean Charles de Castelbajac und absolvierte die Klasse für Fashion Print an der Central Saint Martins in London. In ihrer Diplomarbeit widmete sie sich der Frage »Wie mit 80 Jahren cool sein?« Heute zeigt sie mit Kollektionstiteln und T-Shirt Sprüchen wie »Not At Your Age«, dass sie ein vertrautes Verhältnis zu ihrer Zielgruppe pflegt. Eine ihrer Lieblingsmusen ist die 92-jährige Innenarchitektin und Designerin Andrée Putman.
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Als sie bei ihrem Debut in Paris HipHop-Beats spielte, schien das Publikum leicht geschockt – nicht aber ihre Models. Waren die heute über Sechzigjährigen doch in den Sechziger Jahren jung und erlebten Rockstars wie Janis Joplin (1943-1970) und Jim Morrison (1943-1971) live.

Kulturunterschiede
»Farben hellen meine Stimmung auf“, sagt eine Silikone in Ari Seth Cohen’s New Yorker Streetblog. Und ganz allgemein scheinen seine Protagonist*innen ein ausgeprägtes Faible für bunte Farben zu haben. Anders in Europa: Fanny Karst, die zwischen London und Paris pendelt, wählt eher zurückhaltende Farben wie Taubengrau, Silber, Weiß und Schwarz sowie Schattierungen von Quecksilber und Mond. Auch in den Details hält sich die Modedesignerin zurück. Zentrales Stilmittel sind ihre großflächigen Motive, die sie auf weichfließender Seide realisiert. Karst lernte das Schneiderhandwerk bei Chittleborough & Morgan in der Savile Row und distanziert sich klar vom figurverhüllenden »Hänger«, der die Erwartungshaltung der Gesellschaft auf den Punkt bringt. Zwar sind auch ihre Schnitte figurumspielend und verzeihend – aber durchaus akzentuiert.
Alter im Sinne von Diversität
Die innovativen Konzepte von Seth und Karst sind nicht unbemerkt geblieben und haben die Modeindustrie inspiriert: Die Kosmetikmarke M.A.C. ließ Iris Apfel eine Make-Up Kollektion kreieren und der Schuhdesigner Jimmy Choo benannte einen Schuh nach ihr. Auch Designer und Department Stores knüpfen an das Thema an, bleiben aber zurückhaltend: Protagonisten treten in Shows und Kampagnen auf, explizite Kampagnen gibt es aber nicht. Schließlich soll niemand auf sein Alter reduziert werden. Jedoch kann durch das Nebeneinander von verschiedenen Altersgruppen eine natürliche Diversität ausgedrückt werden. In der Herbst-Kampagne 2012 von Lanvin ist etwa die 82-jährige Jacquie Murdock zu sehen. Sie war Tänzerin und das sieht man ihrem Körper nach wie vor an. Murdock ist übrigens eine Entdeckung von Ari Seth. Céline arbeitete mit der 77-jährigen Dänin Gitte Lee, einem ehemaligen Model – und Jean Paul Gaultier mit Amanda Lear, dem sexy Rockstar aus den 1980ern.
Kaufkraft der Babyboomer
Auch große globale Modehäuser wie Polo Ralph Lauren erweitern ihre Zielgruppenansprache in der Kategorie Alter – wollen Mode aber dennoch nicht altersspezifisch sehen. Grund für das Umdenken ist zum einen die große Menge der Generation über sechzig und zum anderen deren Kaufkraft: In den USA gibt es etwa 78 Mio. über Sechzigjährige, die 70% der Haushaltseinkommen repräsentieren.
Hildegard Suntinger
Webtipps:
https://www.advanced.style
http://www.oldladiesrebellion.com
