Oliver Kuzma, Diplomand, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

Show Angewandte 2024: Wechselwirkung von Technik und Kreativität

Unter Craig Green sind die Arbeiten in der Modeklasse der Universität für Angewandte Kunst in Wien technisch ausgereifter geworden – ohne jedoch den konzeptionellen Ansatz zu verlieren. Wesentliches Stilmittel ist nach wie vor die Dekonstruktion. Zentrales Thema ist Gender – und der Versuch, dessen konventionelle Grenzen zu erweitern, wie etwa mit skulpturalen Silhouetten. Auffallend auch die feministischen Positionen, die meist ironisch konnotiert sind.

Als der neue Modeprofessor Craig Green im Oktober 2023 die Leitung der Modeklasse übernahm, löste er Grace Wales-Bonner ab und ist somit der zweite Brite (und Millennial) in Folge. Der 1986 geborene Modedesigner hatte sich ursprünglich auf Menswear spezialisiert – seine genderfluiden Kreationen wurden aber auch von der weiblichen Zielgruppe entdeckt. In Großbritannien mehrfach preisgekrönt, gilt Green als Konzeptkünstler. Dabei sind seine Kreationen nicht nur einzigartig, sondern auch tragbar und kommerziell erfolgreich. Sein Label wird in renommierten Modekaufhäusern weltweit geführt. 

Liam Noel Pfefferkorn, 2ndyear, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

Er selbst beschreibt seinen Fokus auf seiner Website mit Utility Wear – denn Grundlage sei die intensive Beschäftigung mit prototypischer Funktionskleidung aus verschiedenen Bereichen. Eine Annäherung an Nachhaltigkeit, die auf Langlebigkeit zielt – ohne den in der Mode unabdingbaren Wow-Effekt zu vernachlässigen. Herkömmlichen Anforderungen an Ökodesign würden seine Kreationen indes nicht entsprechen – u.a. weil sein Stoffeinsatz oft verschwenderisch ist. Laut Tim Blanks vom Online-Medium Business of Fashion (BOF) sind Greens Kreationen „große Gesten, die doch poetisch und romantisch sind“. 

Einfluss des neuen Modeprofessors

Suchte man bei der Abschluss-Show am 6. Juni 2024 in den Kollektionen der Studierenden nach Greens Einfluss, so könnte es u.a.  dieser emotionale Zugang zu Modedesign sein. Die Modestudierenden waren erstmals aufgerufen, ihre Inspiration auch in Worte zu fassen. Manche wählten abstrakte Titel, andere selbstreferenzielle – indem sie ihre Gefühle ausdrückten. So oder so war es ein Wording, das die Aufmerksamkeit lenkte und einen reizvollen Interpretationsrahmen bot. 

Aber auch Green selbst gab einen Hinweis auf die Art seines Unterrichts. Gegenüber der Financial Times (10.04.2024) sagte er: “Even if you don’t want to be a maker, it’s important to understand how things are made. If you don’t know how a waistband is constructed, how can you have ideas about a waistband? How can you change it? It’s that Picasso idea: you have to know how it’s done to destroy it, to make something new.”

Stilmittel

Zu sehen war kein radikaler Wandel. Schließlich haben insbesondere die Absolventen in ihrer Ausbildung schon zwei bis drei Modeprofessor*innen durchlaufen. Aber eine tiefere Auseinandersetzung mit den technischen Möglichkeiten war doch sichtbar. Zentrales Stilmittel waren die Silhouetten – und somit auch Materialien und deren Eigenschaften – im Sinne von weichfallend vs. steif oder transparent vs. opak … dazu kam Zweckentfremdetes, wie etwa Papierstoffe, wie sie in den 1980er-Jahren in Form von Merchandising Windjacken aufgepoppt waren. Auch Wegwerf-Kunststoffe wie Müllsack oder Laundry Bag wurden. verwendet.

Darüberhinaus war es auch wieder ein Spiel mit Bedeutungen: Alara Kocman z.B., nähte einen Rock aus einem Patchwork von BHs. Kritik am Kapitalismus ging aus einem Modell hervor, das aus lauter Geldscheinen mit der Aufschrift Dream on bestand (Kreation: Felix Schmidt).

Silhouetten

In den Silhouetten fanden sich Bekleidungsfragmente aus verschiedenen Epochen und Kulturen – strukturierte europäische Formen und Fragmente hüllenartiger und/oder höfischer Kleidung. Prototypen, die auseinandergenommen, vermischt und neu zusammengesetzt wurden. Wiederkehrendes Thema waren Drapierungen, Schleppen und Schleier. Wobei die Umsetzung oft skizzenhaft blieb, als sei noch unklar, wie die Ausführung sein könnte, um den Anforderungen an Kleidung abseits des Laufstegs gerecht zu werden. Z.B. gab es verschiedene Versuche aus Decken Kleidung zu machen. Überraschend, ein Top aus Gips, das wie eine vom Wind an die Brust geheftete Decke wirkte. Die losen Enden schienen seitlich im Wind zu flattern. 

Noch experimenteller waren raumgreifende Silhouetten, die mit Hilfsmitteln wie Holz, Fischbein oder Schaumstoff konstruiert waren. So gab es z.B. ein Kleid in Kegelform (Alara Kocman) und eine Hose im Stil des spanischen Verdugado, der in Stufen angelegten Urform des Reifrocks um 1470. Weiters war ein Panier im Stil von Marie Antoinette zu sehen, der in Kombination mit Tiermaske Assoziationen an die Sphinx weckte (Kreation Marie Matondo). Viel Kreativität wurde auch für aufwändige Ärmel- und Kragenformen aufgewendet. 

Mari Matondo, 2ndyear, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic
Marie Matondo, 2ndyear, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

Styletribe

Allgemein ergab sich der Eindruck, dass genderfluid das neue normal ist. Bestimmte Stilelemente und kreative Praktiken zogen sich durch die gesamte Show. Wie etwa am Boden schleifende Bänder – sei es krawatten- oder schleppenartig. Das mag am Wesen des Styletribe liegen, ein vom Soziologen Ted Polhemus zu Beginn der 1990er-Jahre geprägter Begriff – und ein Phänomen, das durch die Sozialen Medien forciert und signifikant für die Millennials wurde. Es bezeichnet Menschen, die sich in einem bestimmten Stil kleiden, um ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu zeigen. Style grenzt Polhemus von Mode ab, da es sich nicht um das stets Neue, sondern um einen persönlichen Stil handle. Ein Phänomen, das zuvor nur in Subkulturen wie Punk oder HipHop zu beobachten war. Auf den Laufstegen tauchte es u.a. in Form von Birkenstock auf und wurde dadurch doch wieder … zum Trend …

Diana Weis schrieb 2020 in ihrem Buch „Modebilder“, dass der Stammesbegriff aus heutiger Perspektive zwar problematisch erscheine, aber die Idee, „dass Konsumstile im ausgehenden 20. Jahrhundert noch vor sozialer Klasse, regionaler Herkunft et cetera zu den hervorstechendsten Markern von Wertegemeinschaften geworden sind“, bleibe doch virulent. 

Reizvoll für junge Modedesigner ist die Abkehr von der Idee der sozialen Klasse, die es ihnen ermöglicht, nicht mehr nur für eine vermögende abstrakte globale Kundin zu designen, sondern für Ihresgleichen. Was insofern stimmig ist, als Millennials mittlerweile zur größten Kundengruppe geworden sind.  Die Einstiegshürde in die Modeindustrie ist enorm. Trotzdem ist die Zahl der unabhängigen Modelabels in den vergangenen Jahrzehnten extrem gestiegen – und das liegt u.a. an einem schwindenden Diktat, einer zunehmenden Individualisierung und einem vermehrt mode-affinen Publikum.

Die Diplomand*innen

Aber noch bevor es um das Verstehen von Marktgesetzen geht, sollen Modestudierende ihrer Kreativität freien Lauf lassen können, um auf spielerische Weise ein tragfähiges Kreativ-Konzept für eine Kollektion zu entwickeln. Wenn es bei den unteren Jahrgängen noch experimenteller sein darf, geht es bei den Diplomanden und Diplomandinnen schon um den Berufseinstieg – und die Chance mit der Masterkollektion entdeckt zu werden. In den Modekonzernen herrscht das Prinzip the younger the hotter – die Aufmerksamkeit für Absolventenshows ist zuletzt deutlich gestiegen.

In Wien gehen 2024 sechs Absolvierende aus der Modeklasse der Universität für Angewandte Kunst hervor. Folgend ihre Konzepte: 

Spleen

Einer der sechs Diplomanden war Oliver Kuzma. Er gab seiner Kollektion den Titel Spleen – in Anlehnung an die gleichnamige Gedichtesammlung des Literaten Charles Baudelaire (1821-1867). Handwerklich stellte er sich der Herausforderung der klassischen Männergarderobe, die er in ihren historischen Formen studierte, um eine zeitgenössische Perspektive auf den prototypischen Anzug zu entwickeln. Der Anzug, den er kreierte, kommt ohne Hemd aus. Das Sakko ist hinten zu knöpfen und hat vorne ein dekonstruiertes Revers, das schalartig wirkt – und ein Stück nackte Brust freigibt. Wichtig sei ihm die Modellierung einer perfekten Schulterlinie gewesen, so der Modedesigner. Seine Anzughose ist indes zu weit und zu kurz – und steht im Kontrast zum körpernahen Sakko. In einem anderen Entwurf schliffen krawattenartige Bänder am Boden. 

Wie er gegenüber dem Standard erklärte, verweise das hinten zu knöpfende Sakko darauf, dass wohlhabende Menschen in der Vergangenheit Anziehhilfen brauchten. Kuzma gewann den Rondo Modepreis 2024.

Maybe its all just a dream in the end

Pouran Parvizi, eine weitere Diplomandin, versteht ihre Arbeit soziopolitisch und als Kommentar auf Vorgänge in ihrer Umgebung. In ihrer Masterkollektion setzte sie sich mit dem transformativen Potenzial von Modedesign auseinander und wählte den Titel Maybe its all just a dream in the end. Ihr geht es darum, verschiedene Facetten von Weiblichkeit zu kreieren. Zum Beispiel indem sie Techniken aus der Frauenkleidung – wie etwa eine Raffung – in traditionelle Männeranzugstoffe übersetzt oder feminin und maskulin konnotierte Materialien kombiniert. Eines ihrer Modelle war nur durch Bänder zusammen und am Körper gehalten. 

Pouran Parvizi, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic
Pouran Parvizi, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

I gave up counting

Die Diplomandin Martyna Bierut wählte eine kunstvolle Häkeltechnik, um die Arbeitsteilung zu thematisieren, welche die hetero-normativen Geschlechterordnungen implizieren. Unter anderem häkelte sie ein Minikleid mit Cut-out und einem durch Wattierung überbetontem Gesäß. Der Titel ihrer Kollektion: I gave up counting

Martyna Bierut, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic
Martyna Bierut, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

Unpicking Memories

Alissa Herbig untersuchte die tradierten Gender-Narrative rund um die österreichische Tracht und interpretierte diese aus einer queer-feministischen Perspektive. Eine reizvolle Herausforderung, denn laut dem Volkskundler Konrad J. Kuhn ist mit der Tracht eine der machtvollsten sozialen Konstruktionen überhaupt verbunden: die Behauptung und Herstellung eines zweigeschlechtlichen Gegensatzes von Mann und Frau. Zitat: „Tracht macht (…) Geschlecht, ordnet auch hier zu, vereinheitlicht allenfalls Uneindeutiges und verunmöglicht letztlich ein Dazwischen.“

Herbig bezog sich auf feministische Care-Arbeit und emanzipative Praktiken und nutzte traditionelle Handwerkstechniken wie Spitzen, Walk und besticktes Leder.  Der Titel: Unpicking Memories. In einem ihrer Looks kombinierte sie zu Spitzenkleid und -hose eine Trachtenjacke. In einem anderen Look kombinierte sie ein Ballontop mit langer schleppenartiger Schleife zur Hose aus Wollstoff.  Auch eine bestickte Lederhose war dabei – allerdings in Hosenrockvariante. Accessoire war ein asymmetrischer Schleier … 

Alissa Herbig, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic
Alissa Herbig, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

Today

Viola Kollars Kollektion lief unter dem Titel Today und stellte eine Reflexion ihres eigenen Stils dar. Ein Stil, der durch Käufe auf Flohmärkten und in Vintage-Stores herangereift war. Einer ihrer Signature Looks war ein transparentes Kleid über Strümpfen und einem taillenhohen Slip. 

Viola Kollar, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic
Viola Kollar, Diplomandin, Show Angewandte 2024 (c) Mario Ilic

Here just to scream

Yuliya Hlazun brachte eine Satire auf Pailletten – als Synonym für einen Glamour, der in der Mode zunehmend verblasst. Die von ihr kreierten Pailletten waren tellergroß und sporadisch platziert, z.B. auf einer Art Sweater, der im Rücken Länge und Volumen eines Umhangs hatte. Mit dem Titel ihrer Kollektion bringt Hlazun einen Zustand der Kreativität zum Ausdruck, der zwischen Verzweiflung und Lebensfreude oszilliert: Here just to scream. Die Inspiration bezog sie vom Künstler The Wa

Yuliya Hlazun, Diplomandin, Angewandte Show 2024_(c)_Mario Ilic

Protestkundgebung

Die Modeschau wurde übrigens von einer Free-Palästina Protestkundgebung gestört – ausgerechnet als die neue Direktorin der Universität für Angewandte Kunst, Petra Schaper Rinkel, zur Rede ansetzte. Der Protest richtete sich gegen den Sponsor Polestar, ein börsennotiertes Unternehmen der Automobilhersteller Volvo Car Corporation und Geely, von dem die Protestierenden behaupteten, dass es die Kriegstreiber Russland und Israel unterstützen würde. Dieser dementiert. Schon im Herbst 2023 hatte es im Foyer der Angewandten eine Kundgebung gegeben, in der das Massaker vom 7. Oktober 2023 relativiert wurde. Ein antisemitischer Akt, von dem sich das Rektorat klar distanzierte. 

Hildegard Suntinger

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